Mein Lächeln verschwand wieder, als Rave die Tür hinter sich geschlossen hatte und weg war. Ich blieb aber noch ein wenig auf dem Bett sitzen und schaukelte mit den Beinen in der Luft herum, während ich nachdachte. Und darin war ich nicht so besonders gut, denn es war viel einfacher, auf das zu reagieren was kam und dann zu handeln, als sich große Gedanken um alles zu machen. Klar hatte ich immer mal wieder überlegt, was wohl aus mir werden sollte, aber da ich nicht so viele Perspektiven sah - man brauchte nur die älteren Kinder anschauen - brachte das auch nicht so wirklich was. Ich wusste jedenfalls nicht wie ich da rauskommen sollte wo ich gerade steckte. Deshalb dachte ich ja auch nicht so gerne darüber nach.
Nun, was ich jetzt tun wollte, wusste ich. Ich stand auf und kletterte wieder die Leiter hinauf, wo ich mich wieder an die Arbeit machte. Als ich fertig war zog ich Raves alte Kleidung an, die ich ein wenig angepasst hatte. So gut ging das natürlich nicht, aber es war ausreichend. Es war eine kurze, unten etwas ausgefranste Hose, die für mich aber trotzdem fast so lang war wie eine normale Hose, und ein Hemd, dessen Ärmel ich weit hochgekrempelt hatte. Beides hielt ich mit einem breiten Stück Stoff, der als Gürtel diente, zusammen und sorgte dafür, dass es nicht ganz so lose aussah. Außerdem hatte ich eine runde Mütze gefunden, und nachdem ich mir die Haare zusammengebunden hatte, steckte ich sie hoch und schob sie unter die Mütze. Jetzt sah ich fast aus wie ein Junge und nicht mehr wie ein Mädchen. Wenn ich mir die Mütze etwas ins Gesicht zog, würde das schon gehen.
Ich band das eine Ende eines Seils, das ich auch gefunden hatte - oder besser, das aus mehreren Seilen bestand, die ich gefunden und zusammengebunden hatte - an einen der Balken hier oben fest und kletterte damit hinaus aufs Dach. Es war ein schöner, frischer Nachmittag und ich sog die angenehme Luft ein. Dann warf ich das Seil auf der Seite vom Dach runter, wo der Abgrund war und man es vom Steg aus hoffentlich nicht sah. Es war zwar gefährlich, keine Frage, aber das schreckte mich nicht. Wenn ich da unten auf dem Sims am Fuß des Baumhauses zum Stehen kam und mich an den Balken festhielt und mich vorsichtig an der Hauswand entlang schob, müsste ich eigentlich auf den Steg klettern können. Zum Glück war hier auch nicht so viel los, und der beblätterte Ast in der Nähe schützte mich vielleicht auch noch ein wenig vor ungebetenen Blicken.
Gesagt getan, ich kletterte an dem Seil hinab, traute mich aber dann auch nicht, es ganz loszulassen, denn der tiefe Abgrund unter mir war doch schon etwas unheimlich, während ich vorsichtig einen Fuß neben den anderen setzte und um das Haus herum zu dem Steg kroch. Es war auch gut, dass ich barfuß war, denn so hatte ich auf dem schmalen Sims besseren Halt. Und so klappte es tatsächlich und ich kletterte flink über das Geländer auf den Steg, als gerade niemand in der Nähe war. Das Seilende klemmte ich an der Seite des Hauses zwischen zwei Balken am Boden, sodass man es hoffentlich nicht so gut sehen konnte. Und tadaa! Meine Flucht war geglückt! Es tat gut, wieder etwas Riskantes erfolgreich geschafft zu haben!
Ich zog mir den Schirm der Mütze tiefer ins Gesicht und lief davon, um ein wenig von dem Haus wegzukommen, mich umzusehen, und überhaupt einfach mal wieder die Freiheit zu genießen. Wunderbar!
Aber ich hatte auch nicht vor, ganz zu verschwinden. Meine Sachen hatte ich ja auch alle zurückgelassen. Aber es konnte nur nützlich sein, einen Weg aus dem Haus raus zu haben, eine gute Verkleidung dazu - naja, die war sicher noch verbesserungswürdig - und ein wenig die Umgebung zu kennen.
Als es langsam etwas dunkler wurde, war ich schon wieder auf dem Rückweg, denn ich wollte vor Rave zuhause sein. Und so kletterte ich etwa zur Zeit des Sonnenuntergangs wieder auf die Rückseite des Hauses und das Seil hinauf, was für mich keine großen Schwierigkeiten darstellte und auch nicht ganz so gruselig war wie das runterklettern. Rave kam ja immer erst wenn es schon dunkel war, also würde ich dann wieder ganz brav in meinen eigenen Sachen auf dem Dachboden sitzen und mich da beschäftigen.