In den Tiefen des Waldes

Auch wenn Inori vor mir zwischendurch rumhopste und tanzte oder was auch immer - was ich übrigens ziemlich witzig fand - ging der Hirsch unter mir ganz ruhig und gemächlich dahin, sodass ich mich nach einer Weile langsam daran gewöhnte und auch weniger unsicher fühlte. Ich hielt mich trotzdem noch gut fest, aber nach einer Weile entspannte ich mich ein wenig, weil die Bewegungen des Hirsches gleichmäßig blieben. Ich musste kichern, als Inori Rave so zurechtwies, dass er sich entspannen sollte. Aber auch bei ihm schien es nach einer Weile besser zu gehen. Da er vor mir war, konnte ich ihn gut sehen. Und wir kamen definitiv schneller voran. Ein wenig hatte ich ja schon die Hoffnung, dass wir doch schneller in Lago Jun waren und nicht länger in diesem Wald bleiben mussten.
Neugierig hörte ich Inoris Erzählung zu und fragte auch hier und da mal etwas nach, als sie von ihrem Dorf und so erzählte, sprach insgesamt aber nicht so viel und hörte einfach zu. Das war auch schön, weil es dann nicht so langweilig war und ich außerdem nicht mehr darüber nachdenken musste, noch eine Nacht im Wald zu verbringen.
Doof wurde es dann nur, als sie nun uns fragte, wo wir eigentlich herkamen, worüber ich nicht unbedingt sprechen wollte. Naja, ich hatte jetzt nicht sooo große Probleme damit, mir was auszudenken, aber mir war schon auch irgendwie klar, dass es ja auch zu dem passen musste, was Rave sagte. Und was er sagen würde, da war ich mir nicht so sicher.
"Ich wohn in Anrin und bin hergekommen, um Onkel Rave in Cern mal wieder zu besuchen", antwortete ich dann auch gleich ungeniert, bevor er auf die Idee kommen konnte, etwas zu sagen. "Ich war eine Weile bei ihm, und von da wollten wir eigentlich mit seinem Gleiter wieder zurück fliegen, aber dummerweise sind wir über dem Wald abgestürzt. Und wir kennen uns im Wald ja nicht so gut aus und deswegen haben wir uns verlaufen... Deshalb wollen wir erstmal nach Lago Jun weiter."

Ich warf einen Blick über die Schulter als Inoris Stimme von hinten kam und mir sagte, dass ich mich entspannten sollte. „J-ja…tschuldigung!“, sagte ich und lächelte unsicher. Das hier irgendwer zerquetscht wurde, wollte ich ja nicht, weswegen ich auch noch etwas mehr darauf achtete, mich zu entspannen. War nicht einfach, aber es ging ja dann nach einer kleinen Weile und immerhin war es auch ein bisschen peinlich, von der Gruppe der Einzige zu sein, der scheinbar solche Probleme damit hatte, auf einem Reittier zu sitzen. Ich durfte einfach nicht zu sehr darüber nachdenken, dann war es einfacher. Ja.
Den Blick, den Zabuza mir dann noch zuwarf als Inori das sagte, half nicht unbedingt, mich zu entspannen, aber naja…ich tat es ja dann trotzdem.
Eine kleine Weile blieb es ruhig zwischen uns und nur das dumpfe Gestapfe der Tiere war auf dem nachgebenden Waldboden zu hören. Dann begann Inori erst, eine leise Melodie vor sich her zu summen und dann, Fragen zu stellen während ihr Bruder unbeteiligt weiter stapfte und gar nicht zuzuhören schien. Sie stellte eine Frage, von der ich hätte ahnen können, dass sie irgendwann kommen würde. Rin war schneller damit, den Mund zu öffnen und zu antworten und ich bekam direkt ein schlechtes Gewissen als ich ihr zuhörte. Ich hätte unseren Helfern auch nicht unter die Nase gerieben, dass wir von seltsamen Typen verfolgt wurden, die uns ganz offensichtlich an den Kragen gewollt hatten, aber sie anzulügen fühlte sich nicht unbedingt gut an, was vor allen Dingen daran lag, das sie uns geholfen hatten.
Weswegen ich einfach weiter schwieg und nur ein leichtes Nicken zeigte. Rin hatte ja m Prinzip alles erzählt, was man für eine Erklärung brauchte. Hätte nicht gewusst, was ich noch hinzufügen sollte. Davon abgesehen waren da eben besagte Gewissensbisse. Wenn ich nichts sagte, konnte ich auch niemanden anlügen, oder?

Inori fand, dass ihr Bruder sich mal wieder viel zu sehr aus den Gesprächen heraushielt, aber andererseits war sie es ja gewöhnt und eh eine Plaudertasche, sodass es sie auch nicht störte. Irgendwer musste ja den Laden am Laufen halten und für gute Laune sorgen. Wenn man mit Zazzi alleine war, bekam man echt schnell schlechte Laune. Oder fühlte sich von ihm gehasst, obwohl er es gar nicht tat. Inori war sein Gegenpol und gab sich stets die größte Mühe, da gegenzusteuern!
Deshalb war sie diejenige, die erzählte. Aber auch diejenige, die die Fragen stellte! Sie war nicht nur an Rin, sondern auch Rave gerichtet, aber nach Rins sehr knapper Antwort kam von ihm gar nix mehr. Sie runzelte die Stirn.
„Soso, du bist ganz alleine nach Cern gereist, um ihn zu besuchen? Was sagen denn deine Eltern dazu, ist das nicht zu gefährlich?“, fragte sie weiter. Und dass Rave Rins Onkel war, war auch neu, oder? Oder war er einfach ein guter Freund ihrer Eltern und wurde von ihr deshalb so genannt? Das gab es ja auch ganz viel.
„Und was machst du so beruflich, Rave?“, fragte sie weiter. „Hoffentlich ist es nicht schlimm, dass du ene Weile unterwegs bist.“

Da Rave gar nichts sagte, machte es das mir leichter und ließ mir freie Hand in dem was ich erzählte, was mir auch ganz recht so war. Ich ließ mich auch von Inoris Nachfrage nicht aus der Ruhe bringen, sondern gluckste nur und winkte ab, als wäre ihr Einwand völlig unbegründet.
"Quatsch, ich bin doch schon groß genug und mach die Reise ja nicht zum ersten Mal. Diesmal konnten meine Eltern eben nur nicht mitkommen, weil sie zu tun haben. Aber ich war ja auch gar nicht alleine, ein Freund von meinem Vater ist mit bis nach Cern gekommen, weil er eh dahin musste, dann hat er mich eben hingebracht", erklärte ich ihr.
Das war eben das Blöde, wenn man noch so jung war wie ich. Ständig musste man sich erklären, warum man dies oder das alleine machte oder wo die Eltern waren. Das war so nervig! Als ob ich nicht auf mich selbst aufpassen konnte! Aber daher war es nunmal glaubhafter, wenn ich behauptete, ich wäre gar nicht alleine gewesen, das warf weniger Fragen auf - ebenso wie die Tatsache, dass Rave mein Onkel war.
Außerdem stimmte es ja sogar halb, ich war nicht alleine gewesen. Zumindest auf der Hälfte meiner Reise nicht...
Was Inori noch Rave fragte, musste er ja selbst beantworten, aber die Frage nach seiner Arbeit würde ja wohl auch nicht so schwer sein, oder? Und vermurksen konnte er dabei auch nicht viel, hoffentlich.

Es war auch ganz gut, dass sich Inori und Rin hinter mir befanden und nur Zabuza vor mir her ging, der scheinbar kein Interesse hatte, sich in das Gespräch mit einzuklinken und sich auch nicht die Mühe machte, einen Blick über die Schulter zu uns zu werfen. So musste ich Inori wenigstens nicht in die Augen schauen während Rin einfach munter weiter erzählte als wäre es das Normalste von der Welt, anderen Leuten einfach irgendwas vom Hyppogreif zu erzählen.
Ich jedenfalls beschloss für mich, nicht einfach mit auf das selbe Luftschiff aufzuspringen. Es gab einfach keinen Grund, mir irgendeine Geschichte aus den Fingern zu saugen sondern bei der Wahrheit zu bleiben. Bedeutete ja nicht, dass ich unseren beiden Rettern nun diese ganze Story mit den seltsamen Verfolgern erzählen zu müssen, aber...
"Ich hab bis vor kurzem in 'nem Laden eines Bekannten in Cern gearbeitet, aber dann beschlossen, wieder zurück nach Anan zu gehen. Da komm ich eigentlich her...hab da 'nen Onkel..." Ich hielt mich an dem Knauf des Sattels fest und drehte den Oberkörper nun doch ein bisschen, damit ich einen Blick über die Schulter zurück werfen oder zumindest das Gesicht zur Seite drehen konnte, damit ich nicht nach vorne sprach.
Es war nicht gelogen. Ich hatte schon lange daran gedacht, wieder nach Lasaliel zurückzukehren weil ich in Cern einging...diese ganzen Umstände hatten endlich dafür gesorgt, dass ich den Hintern hoch bekam und es auch endlich tat.
"Ich hab da früher in nem Kurierdienst gearbeitet. Das hat Spaß gemacht. Ich war viel unterwegs." Und am Fliegen, was ich ja am Meisten vermisste. Das mein Gleiter zerstört in dem See lag, versuchte ich noch immer zu verdrängen...es würde ewig dauern, bis ich einen neuen gebaut hatte, aber ich hatte ja noch immer meinen Luftstein und solange der da war, war alles gut...
Das redete ich mir zumindest ein.

"Hmm...", machte Inori und klang zum ersten Mal nicht überzeugt. Rins Geschichte wirkte zwar plausibel, aber Inori fand, dass Rin eindeutig noch jung genug war, damit man sie nicht einfach so alleine quer über die Inseln reisen ließ. Man hatte ja gesehen, wie schnell man sich im Cern-Wald verlaufen konnte! Das hatte nicht so ausgesehen, als kannten die beiden den Weg. Erst, als Rin meinte, dass sie auf dem Hinweg gar nicht alleine gewesen wäre, schien sie wieder etwas beruhigt.
Allerdings fand sie, dass es eine merkwürdige Reihenfolge war, in der Rin das erzählt hatte. Den Freund vom Paps ganz zum Schluss erwähnen? Na ja, vielleicht war ihre Erzählweise ja auch so chaotisch wie die von Inori!
Ihr Blick wanderte einmal von oben nach unten über Rin, bevor sie sich wieder nach vorn wandte und weiterhüpfte.
"Ach so?", machte sie dann aber verwirrt, weil Rave sagte, dass er aber gar nicht nach Jualen wollte, sondern nach Lasaliel. Sie ließ sich ein bisschen davon ablenken, was er anschließend erzählte. "Ein Kurier? Oh, cool! Da lernt man bestimmt auch viele Leute kennen, oder?" Kurier war bestimmt genauso spannend wie Jinjyako! Nur ein bisschen weniger spirituell. Und bestimmt auch weniger gefährlich. Manchmal wünschte Inori sich auch einen einfachen Job, mit Leuten am besten, aber ohne die Gefahr, von einem Geist ... äh, na ja, nicht zerfleischt zu werden, aber weißt schon!
Sie schüttelte leicht den Kopf und kam zurück zu ihren Sorgen um Rin. "Und holt dich denn aber dann wer ab, wenn du wieder auf Jualen bist, wenn Rave gar nicht mitkommt?", fragte sie das Mädchen und stieg über eine große Wurzel hinweg, über die die Hirsche mit einem eleganten Hüpfer drübersprangen.

Ich hatte schon wieder ganz vergessen gehabt, dass Rave ja erwähnt hatte, zurück nach Lasaliel zu wollen. War aber doch auch irgendwie verständlich, dass ich das in unserem ganzen Chaos hier vergessen hatte, oder? Außerdem hatte ich selbst ja genug Probleme um die Ohren und musste mir über mich selbst Gedanken machen.
Rave jedenfalls schien kein Interesse daran zu haben, mich zu unterstützen, dass meine Geschichte glaubhafter war. Denn ich hatte absolut nicht vor, Inori zu erzählen, dass ich eigentlich ein obdachloses Waisenkind war, das sich selbst durchschlagen musste. Und da war es wieder. 'Was machst du denn ganz allein, wie kommst du denn ganz allein da hin, kümmert sich nicht jemand um dich?' Pah! Erwachsene waren so doof!!
Deswegen vermied ich ja auch allzu langen Umgang mit ihnen!
Der Hüpfer, den der Hisch unter mir machte, riss mich aus meinem etwas ungehaltenen Starren auf Raves Hinterkopf los, weil ich mich besser festklammern musste, als der Hisch ziemlich schwankte, aber es war zum Glück nur kurz und auch im Nachhinein gar nicht so schlimm. Ich riss mich zusammen.
"Bestimmt", antwortete ich auf Inoris Frage. "Der Absturz und das ganze hat unsere Pläne ganz schön durcheinander geworfen." Der letzte Satz war vielleicht ein wenig spitz, während ich Raves Hinterkopf dabei ansah. "Und jetzt müssen wir wohl erstmal neue Pläne machen."
Das stimmte ja auch. Ich seufzte einmal kurz aus und damit sah ich Inori dann auch wieder an und lächelte ein wenig entschuldigend. Das erklärte doch wohl, wieso alles ein bisschen durcheinander war. Und das stimmte ja sogar.