Die Häftlinge kämpften sich auf die Beine, sobald sie die schweren Schritte der Wächter draußen auf dem Gang wahrnahmen. Sie machten, das sie aus der kleinen Höhle hinaus kamen, die sie in dieser Nacht als Schlafplatz benutzt hatten, damit sie aus einer Laune heraus nicht mit Gewalt heraus gezogen wurden. Schnell sein und den Wärtern einen Schritt voraus zu sein, war eine Eigenschaft, die man hier besser schnell lernte wenn man die ersten Tage überleben wollte.
Die Gefangenen traten hinaus in einen in den Stein gehauenen Gang, vorne und hinten flankiert von einem Golem und einem menschlich aussehenden Wärter, der sofort begann, die in nichts weiter als abgetragene Lumpen und mit Dreck und Staub überzogenen Gestalten zu beschimpfen und zur Eile zu drängen. Es ging durch enge und weite Gänge und schließlich führte der Letzte hinaus ins Freie. Den Gefangenen schlug jedoch keine frische Luft entgegen, sondern stickige, schwere Dämpfe, die das Atmen noch schwerer machte als in den unübersichtlichen Tunnelsystemen, die unter der Erde lagen. Ohne stehen zu bleiben wandte sich der Trupp nach links und folgte einem Pfad entlang des Abgrunds welcher sich zu ihrer rechten erstreckte und in die Tiefe fiel. Wie Ameisen bewegten sich andere Wärter und Gefangene auf den Pfaden entlang, die sich an der Innenseite des Schlunds hinab wanden. Niemand unterhielt sich, die Gefangenen behielten den Blick starr auf den Boden gerichtet, aus Angst, zu stolpern und Hiebe zu kassieren oder für einen falschen Blick ausgepeitscht zu werden. Nur einer der kleinen Truppe wagte es, den Blick für einen Moment zu heben und ihn hinauf in Richtung Himmel gehen zu lassen.
Es mochte etwas mehr als eine Woche sein, die er sich nun hier befand. Es war jedoch schwer zu sagen, da er sich einen Großteil der Zeit in den stickigen Gängen aufhalten musste und, falls er sich direkt an dem Abgrund befand so wie jetzt, machte es der aufsteigende Dampf und die Lavaströme, die in der Umgebung liegen mussten, schwer, zu beurteilen, ob der Himmel dunkel war oder nicht. Vahn wusste, dass dies das Ende für ihn war. Er hatte es gewusst, sobald er wieder zu sich gekommen und ihm klar geworden war, was die Aussicht aus diesem riesigen Krater und die übel riechenden Dämpfe bedeuteten. Er hatte nicht viele Geschichten über diesen Schlund gehört, doch jene, von denen er wusste, hatten gereicht, ihn wissen zu lassen, dass man hier nicht mehr lebend hinaus kam, sobald man drinnen war. Er war zu rational, um sich die Situation schön zu reden. Glücklicherweise bedeutete das auch, dass er nicht der Typ war, um zu verzweifeln. Er machte das Beste aus seiner Situation, wie er das stets tat.
Blieb nur die Frage, was das Beste in seiner Situation war: War es das Beste, hier um sein Überleben zu kämpfen? Oder war es das Beste, freiwillig tiefer hinab zu steigen, um sich nicht länger als nötig mit dem Sterben abzuquälen? Nun ja...möglicherweise entlockte ihm die Situation doch noch etwas Sarkasmus.
Die Gefangenen wurden auf ein breiteres Stück des Pfades geführt, auf dem die Essensausgabe stattfand, die aus einem trockenen Stück Brot und einer Kelle Wasser bestand, das man brauchte, um das Essen hinunter zu würgen. Nachdem Vahn seine Ration in die Hand gedrückt worden war, ging er zu den Anderen, die sich ein Stück abseits auf den staubigen Boden gesetzt hatten und begann zu essen. Es war ein winziges Stück Normalität, das ihnen gegönnt wurde. Zumindest verkauften ihnen die Wärter dies als Pause an der frischen Luft. Vahn war sich jedoch sicher, dass es kein Zufall war, dass sie immer dann hier waren wenn neue Gefangene in die Tiefe gestoßen wurden. Die Schreie und die neue Verzweiflung, die mit den Neuankömmlingen kamen...es war bloß ein weiteres Mittel zur Demoralisierung.
"Deine Hand sieht aber auch nicht besonders gut heute aus." Vahn hob den Blick von seinem Brot und ließ ihn zur Seite zu seinem Sitznachbarn gehen, ein Mann in ungefähr seinem Alter, mit pechschwarzen Augen und ebenso schwarzen Lockenhaaren, die durch den Staub nunmehr eher braun wirkten. Die gleiche Fellfarbe trug er ebenfalls am Unterkörper und anstelle von Füßen besaß er zwei Hufe. Zafer war ein Faun aus dem Cern-Wald. Und er besaß nur noch ein Horn weil man ihm das Andere zur Strafe abgesägt hatte. Vahn und er hatten sich auf Anhieb gut verstanden und seit sie sich hier getroffen hatten, waren sie so etwas wie Leidensgenossen geworden.
"Findest du?" Vahn hob die geschwollene, blau unterlaufene linke Hand und versuchte, die Finger zu spreizen. Verkrustetes Blut befand sich an der Handinnenseite, es war unübersehbar und für ihn auch unmöglich zu ignorieren, dass eine dicke Entzündung unter dem Dreck, Staub und getrocknetem Blut in Gange war. "Ich kann heute den kleinen Finger wieder bewegen."
"Pff." Zafer ließ seine Faunohren zucken und schüttelte den Kopf. "Mach bloß keinen Abgang, ja? Du sollst noch mitbekommen, wie ich mir mein Horn wieder hole."
"Ich gebe mir Mühe." Vahn riss mit seiner unversehrten Hand ein Stück Brot ab und schob es sich in den Mund. Sein Blick glitt hinüber zu zum Rand des Pfads und in Richtung Schlund. Rufe und Schreie kündigten die nächste Ladung Gefangener an, die vom oberen Rand in die Tiefe gestoßen werden würden. Manchmal passierte es auch, das dabei bereits die Ersten starben und ihnen ein Aufenthalt an diesem Ort erspart blieb. Vahn hatte einen sehr unschönen Sturz mit ansehen müssen und er war nicht erpicht darauf, dies noch einmal sehen zu müssen. Trotzdem behielt er den Blick dort. Die Chance war gering, das er durch seine Nachforschungen einer seiner Kontakte, Bekannte oder Freunde mit hinein gezogen hatte...doch eine gewisse Restfurcht war immer in ihm wenn er wusste, dass neue Gefangene kamen. Was wenn sie doch der Spur nach Lasaliel folgen konnten? Was wenn sie Nora fanden? Oder Baihu?