Große Klappe, nichts dahinter?

Minerva stimmte seinem Einwand zu, sodass sich wohl erübrigte, weiter darüber zu debattieren, ob nur Menschen dumm waren oder auch andere Zweibeiner, die unter ihnen lebten. Ob man gleich alle als Menschen bezeichnen wollte, das erörterte sie nicht weiter, doch ihm war es gerade auch herzlich egal. Zudem machte es ohnehin keinen Unterschied. Er kannte genug Menschen, die scheiße waren, die Menschen waren. Also passten ihre Überlegungen hierzu so oder so. Was nicht selbstverständlich für Arashi war, denn wenn es ihm besser in den Kram passte, distanzierte er sich gern von der Spezies "Mensch".
Möglicherweise, weil er gern eine Trennlinie zwischen seinem Vater, einem Menschen, und sich selbst zog. Alles, was ihn von ihm unterschied, war ihm recht.
Er nahm seinen kleinen Ausbruch nicht zurück, obwohl Minerva sich darüber beklagte und ihn wohl als unangenehm empfand. Ihm war dabei egal, ob es von ihrer Gehirnerschütterung kam oder ob sie sich auf der Beziehungsebene verletzt fühlte. Oder eben passend gemaßregelt. Er blieb still und gönnte ihr die Ruhe, während diese ihn eher unruhig machte. Gut sichtbar war es an dem durch sein Haar und über die Kleidung tanzenden Windzug, der beides in Bewegung versetzte und etwas merklicher war als sonst. Glücklicherweise jedoch hatte er sein Unwohlsein über die entblößte Wundnarbe hinter sich gelassen.
Er schnaubte, allerdings weniger belustigt und ein wenig abfällig, was sich aber nicht direkt auf Minerva bezog, als diese sich schließlich wieder meldete und einen Witz über sich selbst machte. Schließlich seufzte er und setzte sich etwas auf. "Lass gut sein. Der Tag ist einfach beschissen." Sein Blick schweifte über die Blumen, die hin und wieder von summenden Insekten angeflogen wurden. Ein hübscher Anblick eigentlich, wenn man etwas dafür übrig hatte. Er aktuell eher weniger, auch wenn es hier draußen definitiv angenehmer war als drinnen bei den Heilern.

Also verfielen sie in Schweigen. War ihm auch recht. Es war ohnehin nicht sein Ding, sich lang und breit mit anderen Leuten zu unterhalten, egal ob es nun Minerva war oder sonstwer. Schon gar nicht gehörte Arashi zu der Sorte, die laut wehklagten und sich bei anderen beschwerten, wie schlecht es ihnen ging und dass die Welt unfair war und ihn keiner lieb hatte. Letzteres zwar nicht, das andere dachte er aber durchaus still für sich. Warum holte eigentlich immer er sich so einen großen Haufen Scheiße ab? Warum hatte sein Vater damals Lasaliel auch unbedingt wieder verlassen und ihn hier mit den ganzen arroganten Karon-Wichsern zur Schule, ins Doujo und in die Feuerarena schicken müssen?
Manchmal fragte er sich, ob er ein besseres Leben gehabt hätte, wenn Kagawa Hisashi ihn in Anan einfach ins Waisenhaus gesteckt und sich dann verpisst hätte.
Ja, sein Frust war gerade ziemlich groß. Zu allem Überfluss wollten ihn jetzt auch noch Leute umbringen - oder ihm einfach einen sichtbaren Denkzettel verpassen, den er nun sein gesamtes restliches Leben mit sich herumtragen durfte. Wie oft er sich wohl in Zukunft die Frage anhören müsste, ob ihm mal jemand den Kopf abgeschlagen und er mit schwarzer Magie wieder angebracht worden war? Die Narbe jedenfalls reichte bis über die Schultern fast bis zum Nacken, wo sie unter den Haaren verschwand.
Seine Augenbraue hob sich, als Minerva irgendwann mit dem Oberkörper langsam zur Seite kippte und dann auf dem Boden zum Liegen kam, doch er weckte sie nicht. Sein Blick blieb auf ihr ruhen, hing an ihren überdimensionierten befellten Ohren und ihrem Profil.
Er fragte sich immer noch, was sie dazu bewogen hatte, ihn als Freund zu bezeichnen. Aber fest stand, dass sie eine der einzigen Personen sein würde, an die er positiv zurückdenken würde. Oder eben überhaupt an sie denken. Der Rest konnte ihn mal. Der meiste Rest.
Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und zog die Beine auf die Bank herauf. Die Sitzfläche war tief genug, damit es bequem ging, denn zur Seite gedreht hätte er sich an der Armlehne nicht bequem anlehnen können. Und so saß er da, ohne den geringsten Wunsch zu verspüren, wieder reinzugehen.
Daher war er noch da, als Minerva nach einer Weile wieder aufwachte. Sein Luftzug umschlich ihn und spendete ihm etwas Abkühlung, die allein durch den Schatten nicht unbedingt der Rede wert gewesen wäre.
Minervas Laune hatte sich durch ihr Nickerchen eindeutig nicht wieder verbessert. Sie wirkte genervt und ähnlich so, wie er sich fühlte. Einfach angekotzt von allem. Trotzdem kam es etwas plötzlich, dass sie die Faust auf den Boden schlug, sich anschließend von Staub und Dreck so halbwegs befreite, dann auf die Beine kam und ihre Verkündung direkt in die Tat umsetzen wollte. Er stand auf.
"Ya, Vanih!" - eine Aufforderung, dass sie den Scheiß seinlassen sollte, aber sie war schon unelegant wie eine betäubte Miezekatze über den Zaun hinweg.
Arashi verdrehte die Augen und stand auf, um ihr nachzusehen, doch er machte keine Anstalten, ihr zu folgen oder sie zur Umkehr zu bewegen. Sie war erwachsen, er war nicht ihr Vater, verdammt noch mal, sollte sie halt abhauen. Mit einem tiefen Seufzen fuhr er sich noch einmal über das Gesicht und durch das Haar, dann ging er endlich wieder ins Haus der Heiler hinein.
"Die Katze ist über den Zaun", berichtete er, als der alte Mann von seiner Tätigkeit an der Theke aufblickte.
Der Heiler seufzte. "Konntest du nicht auf sie aufpassen?"
Arashi verengte leicht die Augen. "Ich bin nicht ihr Babysitter."
"Ihr Kollege aber schon. Ich hatte den Eindruck, ihr haltet die Augen füreinander auf." Er klang nicht vorwurfsvoll, schaffte es aber trotzdem, ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen. Allerdings winkte er mit einem Seufzen ab. "Ich hoffe, das Mädchen übernimmt sich nicht. Mit einer Kopfverletzung ist wirklich nicht zu spaßen." Er wandte sich einem Schrank zu und holte eine frische Bandage heraus. "Nun ja, wenn etwas passiert, wird hoffentlich jemand sie wieder zu uns zurückbringen. Oder sie kommt selbst zurück."
Konnte er nicht die Klappe halten und ihm kein schlechtes Gewissen machen?
Fünf Minuten später lag der frische Verband um Arashis Hals, zusammen mit einer Schicht Salbe, um den Heilprozess weiter zu unterstützen und eine zu starke Vernarbung zu verhindern. Wenngleich das dank seiner eigenen Regenerationskräfte vermutlich gar nicht notwendig war. Jedenfalls war er nun fertig - und hielt sich nicht weiter damit auf, sich von dem Heiler einen Ratschlag geben zu lassen.
Er stand somit wieder auf der Straße. Und nein, er ging nicht zurück zu den Unterkünften, denn vielleicht war sein Gewissen so schlecht, dass er sich ganz zufälligerweise auf die Suche nach Minerva machte. Nur, um kurz nachzusehen, ob alles in Ordnung war.