Arashi.
Die Wolken, die wirbelnd und schnell über den strahlendblauen Himmel zogen, waren weiß und grau marmoriert. Groß, manchmal dräuend, als kündigten sie ein aufziehendes Unwetter an. Ihre Schatten tanzten zusammen mit dem Wind über die weite Senke und den Hügel und erzeugten gemeinsam Lichtreflexe, ein Glänzen und Ermatten der roten filigranen Blüten, die das Grün der schmalen Blätter unter ihnen dominierten.
Er stand vor der schlanken grauen Stele. Direkt vor dem milchig-weißen Stein, dessen Licht sanft pulsierte und summte und der Umgebung Leben zu schenken schien. Das Schimmern, das auf ihn fiel, schien sich in seinem Inneren in Wärme und Energie zu verwandeln. Es brachte die Blüten zum Erstrahlen und machte diesen Ort vollständig.
Ich habe es dir ja gesagt.
Die Frau mit dem orangebraunen Haar trat hinter der Stele hervor, als hätte sie schon die ganze Zeit dort gestanden. Das klare Wasser plätscherte leise, als sie neben ihn trat.
Jetzt stimmt es.
Sturm.
Ja.
Sie strich mit den Fingerspitzen über das Schriftzeichen, was sich so anfühlte, als würde sie ihm sanft über die Wange streicheln.
Ist dir nicht aufgefallen, wie viel davon jetzt hier ist?
Sie deutete hinauf zum Himmel, über den die Wolken wirbelten, machte eine Geste über die wogende Blumenwiese, grinste dann verschmitzt und strich sich über das weiße Kleid, dessen Saum vom Wind hin und her gezerrt wurde, sodass hin und wieder auch ihre Oberschenkel zu sehen waren.
Das bist du jetzt.
Arashi.
Es ist kein Sturm.
Bist du sicher?
Arashi.
Er wandte sich um, als er bemerkte, dass dieses Wort nicht von er jungen Frau neben ihm kam, sondern von einer anderen Stimme, die vom Ende des Weges aus großen flachen Steinen erklang. Die Frau in dem weißen Kleid war weg. Der Himmel hatte sich verdunkelt und eine Decke aus dräuenden Sturmwolken hing darunter und verwehrte den Blick auf das strahlende Blau.
Am Ufer des kleinen Teiches stand nun jemand anderes. Gewitterwolkenfarbene Augen blickten ihn an. Sie gehörten einem Wesen, einer Frau, deren Konturen und Haar abgesehen von ihrem Gesicht seltsam verwischt und flirrend schienen, als wäre ihr Körper nicht fest. Die Form ihrer Augen war vertraut, blutrote Lichtreflexe hingen in ihren wirbelnden schwarzen Haaren. Sie war in ein anthrazitfarbenes Kleid gehüllt, das im starken Wind flatterte und sie umgab wie Fetzen einer Regenwolke.
Arashi, sagte sie mit ihrer vollen, samtenen Stimme, ohne die Lippen zu bewegen, und ein leichtes Lächeln lag auf ihnen. Es wirkte sanft, doch der Ausdruck in ihren Augen war hart wie Stein. Kind des Windes voll Schönheit.
Mein Kind. Sturmkind.
Eine heftige Windböe fegte von der Seite her über sie beide und die Senke, peitschte das Wasser und riss den Saum des Kleides so weit mit sich, als bestünde es aus Nebelfetzen. Die Spitzen ihrer schwarzen Haare verflüchtigten sich wie bei einem Geist, ihre Konturen verwischten in Windrichtung. Kurz war sie fast verschwunden, als die Böe umschlug. Nur ihr Gesicht und die Augen saßen noch immer an Ort und Stelle.
Ich bin stolz auf dich. Arashi.
Es war schon das zweite Mal in wenigen Tagen, dass er aus dem Schlaf fuhr und mit heftig pochendem Herzen und aufgerissenen Augen in das Dämmerlicht im Zimmer starrte. Ihm war heiß und er war aufgeregt und unruhig, als hätte ihn jemand mit einem lauten Schrei ins Ohr direkt aus dem Tiefschlaf gerissen. Wie den letzten, hatte er auch diesen Traum dabei sofort wieder vergessen. Er war weg. Bis auf die Erinnerung an dieses Wort und die Augen. Diese dunklen, grauen Augen, die eins der Dinge waren, die seine Mutter so nicht an ihn vererbt hatte. Ihre Form und ihr Ausdruck waren sehr ähnlich, aber nicht ihre Farbe. Arrow hatte die bernsteinbraunen Iriden seines Vaters. Einer der wenigen Hinweise auf ihre Verwandtschaft.
"Arashi."
Seit mittlerweile etwas mehr als zwei Jahren hatte dieses Wort niemand mehr in seiner Gegenwart ausgesprochen. Hatte nicht mehr den Namen verwendet, den man ihm bei seiner Geburt gegeben hatte. Sogar Brianna hatte es auf Anhieb verstanden und vermieden. Aber genau wie die Augen, war er in seinem Traum vorgekommen, das wusste er noch.
Mikaze war dort gewesen.
Ein beklemmendes Gefühl breitete sich in seinem Inneren aus. Er hatte generell nicht oft Träume, an die er sich erinnerte, aber von seiner Mutter hatte er schon sehr lange nicht mehr geträumt. Seine Erinnerungen an sie waren verschwommen und sicher auch beeinflusst von Wunschdenken. Wenn er von ihr träumte, war sie immer die wunderschöne Frau, die ihn anlächelte, ihn umarmte - und dann für immer den Raum verließ. Aber nie … war sie diese Augen und diese Stimme…
Er ging ins Bad und klatschte sich eine Ladung kaltes Wasser ins Gesicht, spülte sich den trockenen Mund und spuckte aus. Danach starrte er in das etwas angelaufene Spiegelglas, das über dem Waschbecken hing. Hellbraune Augen starrten zurück. Seltsamerweise beruhigte ihn das. Sie waren braun. Nicht grau. Auch wenn sie ansonsten fast genauso aussahen wie die Augen aus dem Traum. Auch wenn die Konturen der Wangenknochen und der scharfen Kieferlinie und selbst der gerade schmale Nasenrücken den Zügen seiner Mutter sehr ähnlich waren. Nur die weibliche Weichheit fehlte seinem Gesicht. Das ätherische Unweltliche.
Du bist menschlich.
"Du bist nur ein kleiner Menschenjunge, Arashi."
Er blinzelte.
"Ich wüsste, wenn du wärst wie ich. Du bist wie dein Vater. Ein Mensch."
…
"Mein Kind. Sturmkind."
Wo kam das … plötzlich her? Hatte sie das mal gesagt? Oder hatte er das auch geträumt? Sie hatte immer gesagt, dass er menschlich war wie sein Vater. Während sein Vater später, nachdem sie abgehauen war, nie müde geworden war, ihm zu sagen, dass er weder ein Mensch, noch ein Karon war.
"Du bist das Ebenbild deiner verfluchten Mutter", hatte er gesagt. "Es würde mich nicht wundern, wenn du dich plötzlich in Luft auflösen würdest wie sie." Und das hatte er auch wörtlich gemeint, denn genau das konnte Mikaze tun. Sich in Luft auflösen.
Ein leises Geräusch von der Haustür her riss ihn aus seinen Gedanken. Er ließ das Handtuch sinken, mit dem er sich gerade das Gesicht abgetrocknet hatte, und öffnete die Tür zum Wohnraum. Das Geräusch vor der Wohnungstür entpuppte sich als das Miauen einer zierlichen weißen Katze mit rotbraunen Ohren und einer rotbraunen Schwanzspitze. Das Tier war bisher immer vor ihm weggelaufen und rannte auch nun die Galerie entlang und blieb erst in sicherer Entfernung wieder stehen, wo es auf den Handlauf sprang.
Arrow hatte den Fehler gemacht, der Katze am Abend nach seiner Rückkehr ein paar Essensreste rauszustellen, über die sie sich in der Nacht scheinbar gierig hergemacht hatte. Sie war abgemagert und ihr Fell war stumpf gewesen. Vielleicht hatte sie tagelang nicht gut gejagt und fror bei der anhaltenden Kälte. Er hätte sie ignorieren sollen. Aber leider war ihm aufgefallen, dass ihr Fell an den Ohren und der Schwanzspitze die gleiche Farbe hatte wie Noras Haare.
Sehr dämlich. Ja.
Sogar große Rehaugen hatte sie. Sie waren nur nicht braun. Und eher groß vor Unsicherheit und Verängstigung.
Aber dieses kleine blöde Ding machte ihm dadurch ein schlechtes Gewissen, das er bei Tieren normalerweise nicht bekam. Also hatte er ihr etwas gegeben. Und seitdem wartete sie jeden Morgen vor der Tür. In den ersten beiden Tagen hatte er ihr besagte Tür wieder vor der fünf Meter entfernten Nase zugeschlagen. Aber am dritten Tag hatte sie gewonnen und er verfluchte sie und sich seitdem.
Übrigens schien sie genau zu wissen, wann er da, und wann er nicht da war.
"Sei nicht so ungeduldig", murmelte er und ging wieder nach drinnen. Er zog sich an, kümmerte sich um das Essen und brachte ihr erst dann etwas nach draußen. Sie war immer noch da, aber sie wartete auch immer noch auf dem entfernten Ende des Handlaufs der Galerie. Er stellte ihr die kleine Schüssel hin und hockte sich dann mit bloßen Füßen vor die Tür, um ihr dabei zuzusehen, wie sie sich vorsichtig und ihn dabei beäugend näher traute. Sie sah schon viel besser aus. Eigentlich hätte er anfangen können, sie wieder zu ignorieren. Oder sie zu verscheuchen.
"Mit dir…
Ich werde dich vermissen.
Bis bald."
Die Katze machte einen Schrecksprung mit allen Vieren in die Luft und selbst Arrow fuhr zusammen, als unvermittelt auf dem Handlauf der Galerie ein kleiner Raubvogel landete. Sie stellte den Schwanz zu einer Flaschenbürste auf, machte mit gesträubtem Fell einen Buckel und fauchte drohend, aber sie rannte immerhin nicht davon.
Das Federvieh ließ sich davon nicht beeindrucken. Es war ein Raubvogel, größer als ein Falke, kleiner als ein Habicht, mit Sprenkeln auf den Flügeln.
Alquilá.
Arrow atmete kurz durch, trat dann einen Schritt zurück und hielt dem Tier die Wohnungstür auf. "Komm rein…"
Alquilá schwebte an ihm vorbei, machte flatternd eine Kurve, und als er ihm folgte, hatte er sich auf der Lehne des Schreibtischstuhls niedergelassen. Die Katze brauchte wohl einen Moment, um sich zu erholen. Oder sie haute nun ab und kam nie wieder. Das wäre das Beste. Für alle.
Die Augen des Raubvogels waren weiß geworden, und es dauerte nicht lange, bis unverkennbar Briannas Stimme im Raum zu hören war.
"Nett hast du’s hier. Sieht aus wie auf Kjubika. Nostalgie?"
"Wie hast du mich gefunden? Ich habe gesagt, dass du dich bei Windfang mit mir in Verbindung setzen sollst."
Arrow stellte fest, dass die Vorhänge hier verrutscht und die Sitzkissen über den Boden gefegt worden waren. Vermutlich war der Traum schuld. Gut, dass er beim Schlafen wenigstens kein Geschirr heruntergerissen hatte.
"Ich wollte sichergehen, dass dort niemand deine Post öffnet. Oder sich über einen Vogel wundert, der mit dir redet. Außerdem ist es einfacher, direkt miteinander zu sprechen, statt mühsam tausend Briefe auszutauschen. Alquilá ist dir gestern gefolgt. Aber er schläft, sobald es dunkel wird, also habe ich das Gespräch auf heute verschoben." Er konnte ihr Grinsen hören. Eigentlich beruhigend, dass sie gute Laune und die Zeit gehabt hatte, ihrem Vogel eine Nacht Ruhe zu gönnen, bevor sie mit ihm reden wollte. "Geht’s dir wieder richtig gut?", fragte sie, während der Vogel ihn dabei beobachtete, wie er die Vorhänge richtete und die Kissen wieder einsammelte.
"Klar."
"Lüg nicht."
"Ich bin wieder gesund."
"Aber es geht dir nicht gut."
Arrow warf Alquilá einen säuerlichen Blick zu, in dem Wissen, dass er dabei Brianna "anschaute", auch wenn es sich komisch anfühlte, dass da nur der blöde Vogel hockte. "Warum fragst du so blöd, wenn du es besser weißt?"
Sie lachte, was es nicht besser machte. "Entschuldige… Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Es ist sicher nicht leicht für dich, das Amulett zu haben. Ich dachte mir, dass dich das beschäftigt. Ich hatte gehofft, dass du ehrlich zu mir sein kannst."
Arrows Augenbraue zuckte in die Höhe. "Ich wüsste nicht, warum ich dir sowas erzählen sollte."
Man konnte sich ihr Schulterzucken schon bildlich vorstellen, als sie seufzte. "Du kennst mich. Du weißt, dass du mir vertrauen und mir alles erzählen kannst. Aber darin warst du nie gut. Ich hätte dir gewünscht, dass es besser für dich wird, nachdem du Kjubika verlassen hast. Ich schätze, dem ist nicht so."
"Es geht mir viel besser hier."
"Natürlich. Aber du lebst alleine und bist nicht gerade von den tollsten Leuten umgeben, verzeih mir diesen Kommentar."
"Brianna." Er hockte sich aufs Sofa und verschränkte die Arme vor der Brust. "Was willst du? Hast du was rausgekriegt? Irgendwas Neues? Hat … Takari was gemerkt?"
Sie schwieg einen Moment lang und die weißen Augen des Raubvogels schienen tief in ihn hineinzusehen. "Takari hat keine Ahnung", verkündete sie dann. "Also erst mal Entwarnung. Ich habe versucht, mit ihm noch einmal über die Leute zu reden, die deine Nora und dich im Wald angegriffen haben. Aber ich wollte ihn nicht zu sehr damit nerven, damit er nicht misstrauisch wird, warum ich mich dafür interessiere. Er sagt, dass es bestimmt irgendwelche Typen waren, die eben einfach auch ein Auge auf das Ding geworfen haben, und behauptet, dass es davon wirklich genug gibt. Es würde mich nicht mal wundern."
Arrow hatte nur schweigend die Zähne aufeinandergebissen, als sie wieder mal mit "deine Nora" um die Ecke kam, kommentierte es aber noch nicht weiter. "Was hat er eigentlich mit der Frau gemacht?"
"Ich weiß nicht. Vielleicht getötet. Er schien kein besonderes Interesse daran zu haben, mehr über die Typen rauszufinden, die noch an das Amulett wollen. Er fühlt sich auf Kjubika sehr sicher. Er ist ein großkotziges Arschloch."
Auch, wenn es nicht seine Absicht gewesen war, die Frau jemandem auszuliefern, der sie später töten könnte, empfand Arrow kein Mitleid oder schlechtes Gewissen. Wahrscheinlich wäre Nora und ihm das gleiche passiert, wenn sie und Pferdeschwanz sie mitgenommen hätten. Wobei Nora vermutlich kein so großes "Glück" gehabt hätte, gleich umgelegt zu werden. Er erinnerte sich noch gut an das, was der Typ gesagt und wie er sie angeschaut hatte. Ekelhaft.
"Verstehe." Er fuhr sich durchs Haar und stand auf, um sich weiter ums Frühstück zu kümmern. Es war sein freier Tag, darum hatte er keinen Zeitdruck, das Gespräch mit Brianna voranzubringen. Aber natürlich interessierte ihn trotzdem hauptsächlich, ob es etwas Neues gab. Sonst hätte sie ihn nicht kontaktiert, oder? "Hast du noch was rausgefunden?"
Es blieb einen Moment lang still, während er das Essen zum Tisch trug und sich dann im Schneidersitz daran niederlassen konnte, sodass er Alquilá im Blick hatte.
"Nicht wirklich. Nichts zumindest, was eindeutige Hinweise darauf geben könnte, wie man dich von dem Amulett befreien kann, ohne dass es dich tötet."
Sie sagte es so sachlich, dass sich eine Hand um sein Herz legte und leicht zudrückte. Er war froh, dass Nora ihn nie danach gefragt hatte und er es ihr nie hatte sagen müssen. Er hatte die Hashi schon zur Hand genommen, starrte jedoch nur auf die Schale mit Reis hinunter.
"Aber", fuhr sie fort, "ich wollte mit dir noch mal über alles reden. Vielleicht ist mir etwas entgangen oder ich finde neue Ansätze, nach denen ich forschen kann. Ich gehe noch immer davon aus, dass das Amulett nicht nur an dich, sondern auch an deine Magie gebunden ist. Du bist nicht wachgeworden, ehe es seine nicht mit deiner vereint hat, soweit ich es beurteilen kann. Deshalb wollte ich noch mal mit dir über die Sache reden. Ist dir irgendetwas an dir selbst aufgefallen, das sich verändert hat?"
"Du meinst, abgesehen davon, dass das Amulett meine Kräfte verstärkt?"
"Das hast du also ausgetestet?"
Er pikste mit den Stäbchen in den Fisch. "Mehr oder weniger." Innerlich wand er sich ein wenig. Er wollte nicht darüber sprechen, aus Sorge, man könnte ihm anmerken, wie gut es sich anfühlte. "Ich hab komische Träume", sagte er nach einem weiteren Moment und schob sich etwas von dem Fisch in den Mund. Dabei war ihm der Appetit mal wieder ziemlich vergangen.
"Oh? Kannst du sie beschreiben?"
Er antwortete nicht sofort und kaute unnötig lange auf dem Bissen herum, der sich irgendwie zäh anfühlte und scheinbar nach nichts schmeckte. "Ich bin mir sicher, dass … in diesem heute meine Mutter vorkam. Und … ich erinnere mich an den Traum, als … Nora mir das Amulett zurückgegeben hat. Sie war … da, an so einem Ort, der sich nicht so wirklich wie einfach nur ein Traum anfühlt."
Er beschrieb ihr in knappen Worten die Landschaft mit den roten Blumen und dem Teich und wie dort alles eingefroren und still gewesen war, bevor Traum-Nora dieses weiße Ding aus dem Wasser hochgehoben und ihm zurückgegeben hatte.
"Ich glaube, ich habe seitdem öfter von dem Ort geträumt, aber ich bin nicht sicher, weil ich mich nicht erinnere. Es ist nur so ein Gefühl. Und … heute war ich wahrscheinlich wieder da. Und ich weiß noch, dass ich die Augen meiner Mutter gesehen habe und sie meinen Namen gesagt hat."
"Deinen echten - "
"Meinen alten Namen, ja."
"Arashi."
Er sah sie gereizt an. Oder vielmehr den blöden Vogel.
"Lass mich nachdenken", murmelte sie unbeeindruckt, und er stocherte eine kurze Weile weiter in seinem Essen herum, während sie still blieb. "Du hast deine Kräfte von deiner Mutter, nicht wahr? Vielleicht repräsentiert sie sie. Und dieser Ort, den du beschrieben hast, könnte das sein, wie dein Selbst sich im tiefen Innern verkörpert."
Arrow zog eine Augenbraue hoch und legte die Hashi weg. "Eine rote Blumenwiese und ein Teich? Was redest du für einen Scheiß?"
Brianna lachte glockenhell auf. "Zu romantisch? - Du bist zur Hälfte ein Geistwesen. Es wäre nicht verwunderlich, wenn du eine engere Verbindung zu ihrer Welt besitzt als normale Menschen. Auch wenn du es bisher offenbar nicht feststellen konntest. Vielleicht wurde es durch das Amulett ausgelöst. Ich frage mich bloß, was Nora dort zu suchen hatte."
Okay. Sein Hunger war offiziell weg und der Appetit schon längst. Er schob das kleine schwarze Holztablett von sich. Es hatte sich damals nicht wie ein normaler Traum angefühlt, das hatte er schon gedacht, als er sich schließlich daran erinnert hatte. Aber trotzdem war er davon ausgegangen, dass Nora nur deshalb eine Rolle in dieser ganzen komischen, eiskalten und widerlich stillen Umgebung gespielt hatte, weil sie diejenige gewesen war, die ihm das Amulett zurückgebracht hatte. Oder vielmehr diejenige, die es gestohlen hatte. Sein Kopf hatte sie logischerweise eingebaut, weil ihn das beschäftigt hatte.
"Du meinst, diesen Ort gibt es wirklich?", fragte er, nicht nur, weil es ihn interessierte, sondern auch, um abzulenken.
"Nicht so, wie diese Wohnung oder Anan oder alles andere, das du als physische Welt betrachten würdest. Und ... er ist nur in dir. Aber … selbst, wenn es nur ein Traum war, bedeutet es nicht, dass es weniger real sein muss. Wie auch immer, leider kann ich hier nur spekulieren. Es wäre sicher einfacher, wenn du dich besser daran erinnern könntest. Aber ich nehme diesen Gedanken mit."
Arrow erwiderte nichts.
"War Nora auch heute in deinem Traum?"
Wieso?
"Ich weiß es nicht."
Er klang vermutlich ein kleines bisschen zu patzig dabei: "Ist irgendwas passiert zwischen euch?"
Wieder trat einen Moment lang Stille ein, aber der Luftzug, der durch seine Haare glitt, verriet mit Sicherheit schon bevor er sprach, dass Brianna keine freundliche Antwort darauf erhalten würde.
"Und was geht dich das an?", erwiderte er dann auch gereizt und störte sich nun erst recht daran, dass er nur Alquilá, aber nicht Brianna persönlich anfunkeln konnte.
"Nun ja, Nora war von Anfang an dabei und ich dachte, dass ihr euch nach dem, was passiert ist, wieder zusammengerauft habt. Das interessiert mich."
"Ich dachte, dass du Informationen für mich hast, die mir weiterhelfen könnten. Für mich ist aktuell alles ziemlich scheiße, also entweder, du kannst mir mit dem Amulett weiterhelfen, oder ich dreh deinem Piepmatz gleich den Hals um."
"Hoppla…", machte sie. "Das beantwortet meine Frage ja fast schon…"
"Brianna…!"
"Mal ehrlich, Arrow. Dieses Mädchen hat es nur gut mit dir gemeint. Sie war so besorgt um dich und wollte dir helfen. Bist du wirklich immer noch sauer darüber, dass sie dir das Amulett gestohlen hat? Ich habe dir doch gesagt, dass du nicht zu hart zu dir selbst und zu ihr – "
"Das ist es doch gar nicht!", zischte er, sie unterbrechend, und hasste sich dafür, dass er nicht einfach ruhig bleiben und sie abbügeln konnte. Warum wurde er überhaupt wütend?
"Was ist es dann?"
Er antwortete nicht sofort, weil er nicht wusste, was er antworten sollte. Er merkte nur, wie es ihn aufwühlte, dass sie über Nora reden wollte und sie zu merken schien, dass da etwas war. Das hatte sie schon in Lishu geschafft, und das war gewesen bevor … - er all diese verwirrenden Empfindungen in Noras Gegenwart verspürt hatte. Bevor er wirklich angefangen hatte, sie zu mögen. Und bevor er sie angelogen hatte, um sie aus all diesem ganzen Scheiß herauszuhalten. Und sie damit sehr verletzt haben musste, wenn sie ihn nicht mit all ihren Worten ebenfalls angelogen hatte. Es war das Richtige gewesen. Er würde es jederzeit wieder tun. Aber trotzdem tat es ihm leid. Er hatte diese Entscheidung nicht getroffen, um sie zu verletzen, sondern um sie zu schützen.
Möglicherweise hätte er eine andere Entscheidung getroffen, wenn er ehrlicher zu sich selbst gewesen wäre. Doch wenn er nicht einmal das schaffte, wie sollte er ehrlich zu Nora sein?
"… oh je", machte Brianna, als er still blieb und Alquilá nur weiter anstarrte. Ihr Tonfall verpasste ihm dabei einen leichten Stich. "In Ordnung… Ich werde nicht weiter fragen." Sie seufzte. "Also. Gibt es noch etwas, das dir aufgefallen ist, was sich verändert hat, seit du das Amulett hast?"
Es dauerte eine Weile, bis er sich wieder so weit im Griff hatte, dass er über ihre Frage nachdenken konnte. Er schluckte den bitteren Geschmack im Mund herunter, doch leider half es nichts gegen den Knoten in der Brust. Oder das Ziehen darunter. Wenn ihm nicht gerade die Katze unter die Augen kam, hatte er es in den letzten Tagen gut geschafft, nicht mehr so oft an Nora zu denken. Er hatte sich eingeredet, auf dem besten Weg zu sein, sie zu vergessen und auch sein schlechtes Gewissen nicht länger mit sich herumzuschleppen. Offensichtlich war das Wunschdenken. Natürlich.
"Nein", sagte er schließlich. "Aber wenn das Amulett sich mit meiner Magie und … mit dem Teil von mir verbunden hat, der von meiner Mutter kommt… Meinst du, es könnte dann selbst irgendwas mit Geistwesen zu tun haben?"
"Ich weiß nicht genau, wie es funktioniert, aber das ist kein schlechter Gedanke…", murmelte sie nachdenklich. "Wärst du dazu bereit, mir zu sagen, wer oder was deine Mutter genau ist?"
…
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