"Windfang"-Agentur

Daußen war es eisig kalt und Schneeflocken wurden von winterlichen Windböen vor den Fenstern vorbeigescheucht.
Vom Fensterbrett aus ließ sich das Treiben einige Meter tiefer gut beobachten. Einige Leute trugen Kapuzen und hatten die Köpfe zwischen die Schultern gezogen. Andere hielten den Schnee mit Schirmen ab. Und wieder andere ließen sich die Haare bepudern und warfen hin und wieder einen freudigen Blick in den Himmel hinauf. Vor allem die Kinder, die mit ihren Müttern - und seltener auch Vätern oder beiden Eltern - durch die Straße vor der Stadtmauer zogen. Ein Geflügelter mit dunklen Schwingen flatterte in der Nähe vorbei und schien das Wetter geradezu zu feiern.
Unten ging die Ladenglocke und die Tür schlug zurück ins Schloss. Ein kühler Luftzug wehte zu der kleinen Galerie herauf.
"Verdammter Mist", grollte eine Etage tiefer die knurrige Stimme eines Mannes. "Jedes Jahr frag ich mich aufs Neue, warum wir nicht einfach nach Anrin umziehen."
"Weil sich das Geld hier einfacher verdienen lässt? Willkommen zurück, Gord", erwiderte eine weibliche Stimme.
"Ich hab dir schon tausendmal gesagt, dass du mich nicht so nennen sollst." Gordon ließ sich mit einem tiefen Seufzen in seinen Stuhl fallen - wenn man dem leisen Geräusch des Polsters glaubte - und ein dumpfes Rascheln verriet, dass er seinen Mantel über einen anderen Stuhl oder vielleicht auf das Sofa geworfen hatte.
Kurz darauf erklang das leise Klacken von Absätzen auf Holzboden. "Kommt nicht wieder vor. Willst du einen Kaffee? Oder Tee?"
"Lieber einen Grog."
Arrow schob die Beine vom Fenstersims, glitt geschmeidig wie eine Katze über das Geländer der Galerie und sprang hinunter in den Hauptgeschäftsraum der Agentur.
"Verdammt, wie oft hab ich dir gesagt, mich nicht zu erschrecken!"
"Gibt es was zu feiern oder ist der Deal geplatzt?", fragte Arrow ihn, ohne auf den zähneknirschenden Blick des hageren Mannes mit den kurzen braunen Haaren und den bereits silbrig werdenden Bartstoppeln oder seinen Kommentar weiter einzugehen.
Gordon verlangte tagsüber nur nach Alkohol, wenn etwas gut gelungen war oder er seinen Frust herunterspülen wollte. Er hatte sich bereits über drei Dinge beschwert, seit er hereingekommen war - also war Arrows Frage eigentlich überflüssig. Der Mann brummte leise und verschränkte die Arme vor der Brust, während Kirin im Hinterzimmer verschwand, um das gewünschte Getränk herbeizuzaubern.
"Es gestaltet sich leider alles nicht so einfach, wie gedacht."
"Warum nicht?"
Er hob leicht die Augenbrauen. "Erwartest du wirklich eine Antwort?"
Arrow zuckte nur die Schultern. "Ich schätze, nicht solange du mich bezahlst."
Mit einem Laut, der eine Mischung aus Schnauben und Schnaufen zu sein schien, winkte Gordon ab und grinste. "Ich mag dich wirklich, Arrow. So pragmatisch-praktisch. Wie immer, verstehen wir uns einfach prächtig." Er schlug einmal die Hände zusammen und rief dann Richtung Durchgang: "Kiri, mach mir lieber Kaffee! Schwarz." Dann wandte er sich wieder an Arrow. "War irgendwas Besonderes, während ich weg war? Wo ist Nawt, der Hund, eigentlich schon wieder?"
"Er hatte einen wichtigen Termin." Arrows Blick glitt zur Tür. "Termin" konnte bei Nawt vieles bedeuten. Von der Wahrheit über eine Kneipentour bishin zu einem Treffen mit einer Frau. Er hatte längst aufgegeben, die Wahrheit wissen zu wollen. "Rikka und Daisuke sind immer noch mit der Büchersendung unterwegs und am Wochenende stehen zwei größere Feiern an."
"Hmm, verstehe. Gutgut. Sind schon alle eingeteilt?"
"Soweit ich weiß, wollte Nawt, dass du noch mal drüberschaust."

Der Rest des Nachmittags schritt ohne besondere Ereignisse voran. Gordon bekam seinen schwarzen Kaffee, Kirin kaute gelangweilt an ihren Fingernägeln herum und Arrow hatte wieder seinen Stammplatz oben auf dem Fensterbrett eingenommen und sah dem Treiben draußen auf der Straße und in der Luft zu.
Es schneite immer noch, als es dunkel zu werden begann, doch es waren nun weniger Leute unterwegs.
"Willst du nicht auch mal langsam nach Hause gehen?", fragte Gordon ihn wenig später, als er ins Obergeschoss heraufkam und einen Stapel Papiere einzusortieren begann. Kirin war pünktlich verschwunden und die anderen waren entweder noch zu Aufträgen unterwegs oder direkt von dort nach Hause aufgebrochen.
"Ich hatte gehofft, dass vielleicht doch noch irgendjemand kommt."
"Wieso, damit du ihn mit einem bösen Blick gleich wieder nach draußen schicken kannst?"
Arrow warf ihm einen besagten bösen Blick zu.
Gordon lachte. "Kleiner Scherz. Im Moment ist echt nicht so viel los. Aber wir können uns trotzdem nicht beschweren. Bist du knapp bei Kasse? Zahl ich dir nicht genug?"
"Ich will nur etwas zu tun haben."
"Puuh..." Gordon wandte sich wieder den Schubladen zu. "Andere schieben gerne eine ruhige Kugel. Manchmal frag ich mich, was bei dir anders gelaufen ist." Eine Frage, auf die er von Arrow nicht ohne weiteres eine Antwort bekommen würde. Möglicherweise kannte er sie ja selbst nicht einmal. "Ich treff mich später noch mit einem von den Jungs, um zu besprechen, wie es in der aktuellen Sache weitergeht. Wenn du Glück hast, schick ich dich los. Kann sein, dass das sehr kurzfristig passieren muss. Laut Plan wärst du dafür entbehrlich. Interesse?"
Arrow erhob sich. "Ich wiederhole mich ungern. Ich kann sofort aufbrechen, wenn du mich brauchst. Soll ich dich begleiten?"
Sein Boss kratzte sich am Kinn. Ein Geräusch, das Arrow jedes Mal eine unangenehme Gänsehaut im Nacken bescherte. Aber er sagte nichts dazu und wartete nur ab. "Also gut. Musst nur vielleicht draußen warten. Geh in der Zwischenzeit einkaufen oder aufräumen oder dich waschen oder was immer du nach der Arbeit sonst so tust. Komm in zwei Stunden wieder."

~~~> Cern-Wald/Pfad gen Cern

Shushnar/Lishu/Zuhause der Familie Nawaka ->->->>>

"Hier, nimm das für deinen Boss mit", sagte der bärtige untersetzte Mann mit der wettergegerbten Haut und der weißen Narbe im Gesicht, die seiner Aussage nach von einem Greif stammte. Er lud Arrow einen Beutel in die Arme, dessen Inhalt sich nach irgendwelchen Pflanzen anfühlte und auch so roch.
"Was ist das?“
"Pilze und getrocknete Shushnar-Flechten", antwortete der Matrose. Er bemerkte Arrows Blick. "Alles legal", fügte er daher hinzu.
Arrow hatte nicht angenommen, dass der Mann ihm am helllichten Tag illegale Drogen in die Hand drücken würde. Aber … Flechten? Er blieb still.
"Sag ihm, er soll die Tage mal vorbeischauen."
"Mache ich." Arrow wandte sich ab und wieder dem Pferd zu, das aufgeregt in dem mit Seilen abgetrennten Bereich unter Deck von einem Huf auf den anderen trat. Gavotte schien genau zu wissen, dass sie angelegt hatten und es endlich wieder auf festen Boden ging. "Ist gut, Mädchen", sagte er, als sie seine Hand mit der Nase wegstieß und schnaufte. Er zog den Sattelgurt nach, hängte den Beutel an das Gepäck und führte sie dann aus dem Bauch des Luftschiffes die Rampe hinauf an Deck.
"Irgendwann machen wir einen leckeren Sauerbraten draus und du legst dir ein anderes zu", kommentierte ein falkengesichtiger Mann mit hellbraunen Flügeln, als Gavotte scheute, weil ein anderer ein Tau vom Mast heruntergeworfen hatte.
"Ich esse lieber Geflügel", bemerkte Arrow mit einem Blick zu seinen Flügeln, sobald er das Pferd wieder beruhigt hatte.
Der Falke lachte. "Ich auch." Er verneigte sich zum Abschied spöttisch und schoss in die Luft hinauf, was Gavotte erneut zusammenzucken ließ und sie zu allem Überfluss die Spitzen seiner Federn abbekam.
"Idiot", sagte Arrow leise und führte das Pferd vom Schiff herunter. Er ging lieber neben ihm her. Nach dem Flug und dem langen Ritt vorher war er ganz froh darüber, festen Boden unter den Füßen zu haben und sich selbst etwas bewegen zu können. Außerdem traute er Gavotte gerade nicht über den Weg, und er wollte sich noch ein wenig Zeit nehmen und die Stadt auf sich wirken lassen, bevor er bei Windfang aufschlug.
Das Schiff hatte die Flugzeit so abgepasst, dass es früh am Morgen war und Anan gerade zum Leben erwachte. Hier oben war es ohne die Sonne immer noch eiskalt. Die vertraute klare Luft, der Wind, der sich mit seinem eigenen Luftzug vermischte und an seiner Kleidung zerrte, wie um ihn zu begrüßen… Das alles sorgte dafür, dass eine innere Anspannung von ihm abfiel. Es war dieses Gefühl des Zurückkehrens, das er bisher in seinem Leben an noch keinem anderen Ort verspürt hatte.
Er blieb stehen und blickte noch einmal über die Schulter zurück zu dem Luftschiff, das im Laufe des Tages neue Fracht laden und dann nach Lago Jun zurückkehren würde. Arrow hatte von diesem Auftrag nichts mitgebracht. Nichts, außer dem Geld für Gordon, in dem auch sein eigener Lohn enthalten war. Nichts, außer dem Amulett, das eigentlich Hunderte Meilen von hier entfernt sein und eine Vitrine zieren sollte. Oder was auch immer Takari damit vorgehabt hatte. Nichts, außer einer ungewissen Zukunft.
Nichts von ihr.
Allerdings hing ihm immer noch der Geruch ihres Haars in der Nase.
Er konnte sich bildlich vorstellen, wie wütend und enttäuscht sie gewesen sein musste, und vielleicht auch immer noch war, als sie das Blatt Papier ohne die gewünschten Informationen darauf gefunden hatte. Er wusste genau, dass er ihr Unrecht damit tat; sein Schuldempfinden hatte ihn auch in der vergangenen Nacht fast gar nicht und somit äußerst schlecht schlafen lassen. Am liebsten wäre er auf direktem Weg nach Hause gegangen, hätte den Kopf ausgeschaltet und erst mal einen ganzen Tag im Bett verbracht, denn es war schon die zweite, eher sogar noch die zweieinhalbte Nacht ohne ausreichende Erholung. Doch seinen Kopf konnte er nicht einfach ausschalten, und bisher half ihm die Distanz auch nicht, die Gedanken zu verscheuchen oder sich besser zu fühlen.
"Ich werde dich vermissen."
"Bis bald."
Andererseits war auch noch nicht mal ein ganzer Tag vergangen, seit er Lishu verlassen hatte.


"Verdammt, wo bist du gewesen?!", knurrte Gordon und sprang auf die Beine, als er eine Stunde später die Tür zur Agentur öffnete und der Mann ihn entdeckte. "Ich dachte schon, du hättest ins Gras gebissen."
Arrow erwiderte nicht sofort etwas, sondern trat zu seinem Schreibtisch und warf den Beutel mit dem Shushnar-Zeug und den viel kleineren mit dem Geld darauf. Die Agentur war bis auf Gordon unbesetzt. Ein Glück war er so früh, dass die anderen noch nicht aufgetaucht waren. Auf ein Gespräch gleich mit mehreren Leuten hätte er gerade so gar keinen Bock gehabt.
"Mir ist was dazwischengekommen."
Gordon brummte und schnappte sich das Geld, um nachzuzählen. "Wurdest du angegriffen? Hat jemand versucht, das Ding zu stehlen?"
"Auch das. Aber das hat mich nicht aufgehalten", erwiderte er glatt. "Ich musste was erledigen."
Sein Boss zählte einige Münzen aus dem Geldbeutel auf den Schreibtisch und schob sie ihm herüber. Er wirkte nicht allzu misstrauisch wegen dem, was er noch hatte "erledigen" müssen. Auch wenn Arrow wusste, dass er es ihm vom Gehalt abziehen würde. Und er würde später darauf zurückkommen, wenn ihm noch ein Nachteil daraus entstehen sollte.
"Jemand wollte es dir abnehmen?"
Arrow fasste kurz zusammen, was im Wald passiert war, ließ dabei jedoch Nora und die Geisel weg. Gordon wirkte nicht weiter beunruhigt darüber, schließlich war Arrow unversehrt und wohlbehalten zurückgekehrt. Und er wusste, dass er sich auf dessen Fähigkeiten verlassen konnte.
"Gute Arbeit."
"Wo hatten die es her?", fragte der Jüngere, zog den Stuhl vor dem Tisch zurück und ließ sich darauf nieder. Er verschränkte die Arme und überschlug die Beine.
Gordon verengte misstrauisch die Augen. "Was meinst du?"
"Tu nicht so." Arrow zog eine Braue hoch. "Takari hat mir das Amulett gezeigt und mich darüber ausgequetscht, ob ich es auch ja nicht angefasst habe. Was ist das für ein Ding? Wo hatten die es her, was ist damit?"
"Hat er dir noch mehr darüber erzählt?"
"Nein. Er war sehr misstrauisch und hat es mich auch spüren lassen."
Gordon schnalzte mit der Zunge. "Ich stecke meine Nase nicht in diese Angelegenheiten. Ich mache die Deals und hole die Ware, wir bringen sie zum Empfänger und kassieren das Geld. Wir stellen keine Fragen und kriegen keine Antworten. Verstanden?"
Arrow presste die Zähne zusammen und starrte ihn an.
"Verstanden? Wenn du ein Problem damit hast, werde ich dich künftig nicht mehr für diese Aufgaben auswählen."
"Ich habe kein Problem damit", erwiderte er und zügelte den Luftzug, der sich um den Saum seiner Haori schlängelte. Er durfte sich nicht von dem Umstand beeinflussen lassen, dass er jetzt die ganze Amulett-Scheiße am Hals hatte. Gordon konnte nichts dafür, und wenn er sich darüber aufregte, würde das nur Fragen aufwerfen. Und das tat es offenbar auch schon:
Gordons Blick hing an seinen Augen. "Was ist los? Du interessierst dich doch sonst auch nicht für das Zeug." Er setzte sich und öffnete den Beutel, den der Bärtige ihm mitgegeben hatte.
"Nichts." Er blinzelte und blickte zur Seite, wo ein Stapel Dokumente lag. "Es ist nur… Takari ist ein skrupelloses Arschloch."
Sein Boss zuckte die Schultern. "Und wenn schon. Nicht unser Bier."
"Nicht, solange er zufrieden ist."
"Worauf willst du hinaus, Kagawa?"
"Jemand wusste, dass ich auf dem Weg nach Cern-Yon bin, um dieses Amulett abzugeben. Sie wussten, wie ich heiße und wie ich aussehe. Genau so, wie die Typen es Takari mitgeteilt haben, oder? Zudem war Takaris Sorge, wir könnten ihm eine Fälschung andrehen, ziemlich groß. Was, wenn das Ding nicht echt war und er es rausfindet?" Nun, er konnte zumindest eine Lüge erfinden und trotzdem nah an der Wahrheit bleiben.
Gordon puhlte sich mit der Zungenspitze einen Moment lang nachdenklich in der Backentasche herum. "Wir haben nur den Auftrag ausgeführt. Wenn er unzufrieden mit der Ware ist, muss er sich an unseren Auftraggeber wenden. Und das würde er auch."
Blöd nur, dass Brianna Takari gesagt hatte, die Fälschung wäre echt. Er wüsste also, dass sie gelogen hatte, sollte er herausfinden, dass er nur eine Fälschung hatte.
Sein Boss schnitt eine Grimasse und bewies erneut, dass er nicht dumm war. "Es sei denn natürlich, du bist Schuld daran." Er lachte dreckig. "Ich hätte nicht gedacht, dass du dich diesmal so einpissen würdest. Du bist wieder hier und noch dazu hast du keinen einzigen Kratzer in deinem hübschen Gesicht, also gibt Ruhe. Kirin wird ganz entzückt sein, dich wiederzuhaben. Vögelt ihr eigentlich noch?"
Arrow blinzelte, irritiert ob dieses ziemlich unpassenden Einwurfs. Das war einmal. Letztes Jahr. Sie waren beide ziemlich betrunken gewesen, sonst wäre es von beiden Seiten nie passiert.
"Sie hat eine-n Partner." Er war nicht sicher, was Gordon von der Nachricht hielte, dass es eine Partnerin war. Also sagte er es nicht.
"Echt? War sie nicht neulich Nacht bei dir?" Gordon zog einen getrockneten Pilz aus dem Beutel und roch daran.
"Sie war sturzbetrunken", erwiderte Arrow, der keine positiven Erinnerungen an dieses Ereignis hatte. Kirin hatte sich auf der Toilette die halbe Nacht lang die Seele aus dem Leib gekotzt und ihre Flügel hatten nach vergossenem Bier gestunken. "Der Weg zu ihr war mir zu weit."
Gordon lachte auf. "Du lässt nix anbrennen, was? Die reiche Schnickse von neulich war gestern hier. Nawt hat sein Bestes gegeben, aber sie wollte zu dir. Wunder dich also nicht, wenn er nicht gut auf dich zu sprechen ist.
Er bekam nur einen ausdruckslosen Blick von Arrow. Er konnte sich an kaum einen Tag erinnern, an dem Nawt gut auf ihn zu sprechen gewesen wäre.
"Was wollte sie?"
"Sie hat behauptet, eine Begleitung nach Ikabu zu benötigen. Ihr Vater sitzt dort ein und sie will wegen den ganzen Wachen nicht alleine da aufschlagen. Aber wenn du mich fragst, hat sie nur ein Auge auf dich geworfen."
Arrow erhob sich. "Dann sag ihr, dass Rikka oder Kirin sie begleiten werden."
"Sag es ihr doch selbst", entgegnete Gordon. "Was ist los? Die Frau ist echt heiß. Hast du keinen Schwanz?"
Seine Miene verfinsterte sich, und er sah ihn kurz etwas ungehalten an. "Ich hab meinen Schwanz einfach besser unter Kontrolle als Nawt." Er hatte keine Ahnung, warum diese Unterhaltung in eine derart fragwürdige Richtung abdriftete. Der Schlimmere von den beiden Cousins war sonst doch eindeutig Nawt. Arrow stellte sich gerade jedoch nicht zum ersten Mal die Frage, was Gordons Ehefrau dazu sagen würde, würde sie ihn so reden hören. Wahrscheinlich ließ er bei ihr nur den scheiße freundlichen Mann raushängen, der sich gewählt und zuvorkommend auszudrücken wusste, wenn Kundschaft hier drinnen war. Vielleicht war seine Ehe aber auch nicht besonders glücklich und die Frau kniff beide Augen und Ohren zu.
"Bwahahaha! Arrow! Ich mag dich. Oh, weh den Jungfrauen in Nöten, die du eiskalt von der Bettkante stößt! Wenn ich nicht das mit Kirin wüsste, würde ich fast denken, dass du selbst noch Jungfrau bist."
"Können wir über was anderes reden?"
Über irgendetwas, das nichts mit Frauen zu tun hatte, bitte, ja? Er wollte nicht an Nora denken müssen.
Ein Seufzen kam von dem Mann hinter dem großen dunklen Schreibtisch. "Mal ehrlich. Du warst länger weg, als geplant. Wenn sie heute wiederkommt, nimmst du ihren Auftrag an und begleitest sie. Sie hat viel Geld und legt bestimmt ein ordentliches Trinkgeld obendrauf. Sie ist eine Sylphe, sie war glaube ich angetan von deinem…" Er machte mit der Hand eine Geste, die wohl Arrows Aussehen umreißen sollte. "Du weißt schon. Das, was dich von einem normalen Menschen unterscheidet."
Arrow runzelte die Stirn. Die Sylphe hatte als Luftgeist vielleicht ein besonderes Gespür dafür. Von der roten Strähne an der linken Seite seines Kopfes mal abgesehen, musste man ihn sich nämlich schon etwas genauer anschauen oder mit anderen männlichen Personen vergleichen, um sehen zu können, dass er nicht rein menschlich war. Auch wenn es stimmte, dass er fast gar keine Gemeinsamkeiten mit seinem menschlichen Vater hatte.
Ob Nora das aufgefallen war? Falls sie sich gefragt hatte, ob dieser rote Fleck in seinen Haaren, der aussah, als hätte jemand Farbe darüber gegossen, bei einem Menschen überhaupt möglich war, und ob es auf Lasaliel für Luftbändiger üblich war, seinen persönlichen Windhauch mit herumzutragen, hatte sie es sich jedenfalls nicht anmerken lassen. Sie hatte auch nicht weiter nach seiner Mutter gefragt, als er ihr gesagt hatte, dass sie einen ganzen Kranz dieser roten Farbe im Haar gehabt hatte. Vielleicht … spielte es aber auch keine besondere Rolle für sie. Es gab zum Glück nur wenige Leute hier, die es stören würde, wenn sie davon wüssten. Vielleicht war das auf Shushnar ähnlich. Auf Kjubika war das nicht selbstverständlich gewesen, vor allem, weil Mikaze keine Karon war, seinen Vater verlassen und so seine Ehre verletzt hatte. Zumal die beiden nicht einmal verheiratet gewesen waren. Das war hier in Anan keine große Sache. Im eher patriarchalen Nevo schon.
"Ich werd sehen", versetzte er blinzelnd und schob die Gedanken an seine Eltern und Nora weg. Eigentlich wollte er keinen Ausflug mit einer Frau antreten, nachdem der letzte so dermaßen nach hinten losgegangen war. Aber vielleicht konnte es ihn ablenken. Auch wenn er seine Klamotten definitiv anbehalten würde. Und sich vermutlich mit dem drängenden Problem namens Amulett beschäftigen sollte. Obwohl es aktuell wirklich der größte Scheiß in seinem Leben war, ließ er sich viel zu leicht davon ablenken.

->->->>> Arrows Wohnung

Arrows Wohnung ->->->>>

"Ich weiß nicht viel über diese Wesen."
Arrow fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und rieb sich mit den Fingerspitzen unter den Augen entlang. Er wusste nicht so genau, ob er sein Schlafdefizit jemals wieder in den Griff bekommen würde.
"Ich kann versuchen, etwas darüber herauszufinden. Es ist schade, dass deine Mutter dich zu früh verlassen hat, um dir mehr über sich zu erzählen, woran du dich erinnerst."
Er ließ den Kopf zurück gegen die Fensternische sinken und blickte weiter hinaus. Seit dem Gespräch mit Brianna gingen ihm eigentlich nur noch mehr Dinge im Kopf herum, die ihn nervten und die ihm viel zu wenig - oder vielmehr: gar nicht - weiterhalfen. Draußen schien die Sonne und es war der erste Tag, seit er wieder in Anan war, dass die Temperaturen deutlicher oberhalb des Gefrierpunktes verbrachten. Der Frühling war angekommen.
Es fühlte sich schon wie eine Ewigkeit an, seit er Shushnar hinter sich gelassen hatte.
Das Amulett verbarg sich in seiner Hosentasche. Brianna hatte ihm versichert, dass es keine Aura hatte und es vermutlich daran lag, dass seine Kräfte sich damit verbunden hatten. Auf andere musste es wie ein magieloses, etwas protziges Schmuckstück wirken, das man einer Schamanin oder einer alten Lady um den Hals hängen würde. Wenn man es zu Gesicht bekäme. Das vermied er tunlichst, denn er hatte keine Ahnung, ob Gordon das Amulett von den Typen, bei denen sie es abgeholt hatten, gezeigt bekommen hatte. Er konnte nicht riskieren, dass es ihm unter die Augen kam.
Die Ladenglocke verriet Kundschaft. Er rührte sich nicht vom Fleck. Gordon war nicht da, aber wie immer in diesem Fall - oder meist -, bedeutete das, dass Nawt die Stellvertretung übernahm. Und Arrow die Rolle der Anstands"dame". Allerdings war er sich ziemlich sicher, dass gerade ein Mann die Geschäftsräume betreten hatte, was bedeutete, dass Nawt den Geschäftsmann, und nicht den Casanova geben würde.
"Ah, guten Tag, mein Herr. Wie kann ich Euch helfen?"
Er hob den Kopf und sah hinunter in die untere Etage. Das war nicht Nawts Stimme.
Tatsächlich kam gerade Kirin aus dem Mitarbeiterraum gestiefelt, die braunen Flügel fest auf dem Rücken angelegte, das braune Haar hochgesteckt, ordentlich, aber nicht zu förmlich gekleidet und mit einem freundlichen Lächeln auf dem dezent geschminkten Gesicht. Ihre bronzefarbene Haut schimmerte im Licht der Sonnenstrahlen, die von draußen durch eins der Fenster hineinfielen. Arrow bemerkte allerdings, dass sie sich ein kleines bisschen versteifte.
Dabei war der Typ, der unter der Galerie hervortrat, die ihm bis gerade noch den Blick auf ihn versperrt hatte, nicht besonders groß, nicht besonders breit, und er hatte nicht einmal bedrohliche Kleidung an oder große Waffen dabei. Arrow konnte ihn nur von hinten sehen. Vielleicht kannte Kirin ihn?

Kirin hatte selbst gelbe Augen, deren Farbe aus ihrem gebräunten Gesicht sehr hervorstach. Geschlitzt waren ihre Pupillen jedoch nicht. Sie war zierlich, aber kurvig, und sie wäre etwas kleiner gewesen, hätte sie diese schwarzen Stiefel mit den Absätzen nicht getragen.
Ihre Anspannung machte Arrow etwas misstrauisch, da der Fremde sich immerhin nicht in irgendein x-beliebiges Geschäft verirrt hatte, in dem die Mitarbeiter nur wie x-beliebige Statisten herumsaßen. Kirin war tough, und sie konnte verdammt fest zutreten. Er machte nicht sofort auf sich aufmerksam. Solange sie nicht auffordernd zu ihm hoch schaute, hatte sie die Lage schon im Griff.
Sie entspannte sich nun auch tatsächlich wieder ein wenig, was jedoch auch an ihrer Verwirrung liegen könnte.
Ihre Augenbrauen hoben sich überrascht. "Personal?"
Arrow schob nun doch die Beine vom Fensterbrett und stand auf, wobei zwar kein Geräusch ihn verriet, er jedoch Kirins Aufmerksamkeit erregte, in deren Blickfeld er sich befand. Er trat ans Geländer der Galerie.
"Weißt du, ob der Boss jemanden sucht?", fragte sie ihn, wandte sich dann wieder an den Fremden: "Tut mir leid. Unser Vorgesetzter ist zur Zeit nicht anwesend. Er hat mir nichts davon gesagt, ob er auf der Suche nach Verstärkung ist."
"Mir auch nicht", fügte Arrow hinzu und beantwortete damit Kirins Frage. "Wo ist Nawt?"
"Er ... wollte kurz rausgehen", sagte Kirin und schob Zeige- und Mittelfinger aneinander, um ihm zu signalisieren, dass Nawt eine Raucherpause machte. "Entschuldigen Sie. Herr Winters Stellvertreter ist für ein paar Minuten abwesend. Vielleicht könnte er Eure Frage beantworten. Möchtet ... Ihr solange hier warten? Kann ich Euch etwas zu trinken anbieten?" Kirin war wie immer unverbesserlich.

Arrow zuckte zwar vor dem Blick des Fremden nicht zurück, aber er konnte verstehen, warum sein Auftauchen Kirin einen Moment lang verunsichert zu haben schien. Seine Augen waren seltsam, von der Farbe bis zum Ausdruck darin. Und das, wo sein sonstiger Aufzug bishin zu der Raute auf seiner Stirn eher harmlos wirkte. Er konnte das wirkliche Alter nicht schätzen, vom Äußerlichen wirkte der Mann auf ihn jedoch sogar jünger als er selbst. Vielleicht wegen der Frisur. Oder der Statur.
Sein Blick war einmal über ihn gewandert, wandte sich aber auch danach nicht gleich wieder von ihm ab.
"Oh, okay." Kirin wirkte etwas ratlos, als der Fremde sowohl ihre Entschuldigung abtat als auch ihr Angebot auf etwas zu trinken ablehnte. "Ihr könnt dort vorn auf dem Sofa platznehmen", und dann ließ der Typ sie ein wenig im Regen stehen, denn er wandte sich schon ab und trat zurück in Richtung des Eingangsbereiches, wo sich eine Sitzecke für wartende Kunden befand, ohne dass ihr Hinweis dafür erforderlich gewesen wäre.
Kirin warf einen ratlosen Blick zu Arrow hinauf, der eine Augenbraue hob, über das Geländer glitt und sich zu ihr in die untere Etage hinabfallen ließ. Ihre Mundwinkel zuckten.
"Hattest du drüben was zu tun?", fragte er sie, um ihr zu signalisieren, dass sie nicht mit hier warten musste.
"Mittagspause", sagte sie leise.
"Geh ruhig."
Normalerweise war es nach Gordon oder Nawt ihre Aufgabe, sich um die Leute zu kümmern. Jedenfalls hielten es bisher alle nicht für die beste Idee, wenn Arrow ein Gespräch übernahm. Er war einfach besser darin, sich sagen zu lassen, was er tun sollte, als den Weg dorthin mit den Kunden auszuarbeiten und mit Geduld und Umsicht nach ihren Wünschen und Sorgen zu fragen und diese zu erfüllen oder auszuräumen. Kein Wunder also, dass er sich eben, als der Typ hereingekommen war, nicht vom Fleck gerührt hatte. Aber selbst er bekam es hin, mit einem Wildfremden zu warten, wenn die Kollegin gerade am Essen war.
Kirin bedankte sich leise und huschte trotz ihrer Absätze erstaunlich leise wieder davon.
Arrow wandte sich dem Fremden zu, der sich nicht hingesetzt hatte, sondern sich stattdessen in der Ecke nach irgendetwas umzusehen schien. Er würde keine Informationen über einzelne Angestellte finden. Gordon überließ es nicht den Kunden, sich jemanden auszusuchen - nicht, solange nicht von deren Seite aus die Sprache darauf fiel, und das verhinderte er in der Regel eben genau dadurch, dass er sie nicht aushängte wie Wurst an einer Fleischtheke. Natürlich ließ er mit sich reden. Allerdings blieb er auch konsequent, wenn ein Kunde gerne A und B haben wollte und Gordon davon überzeugt war, dass nur X und Y die Sache zur besten Zufriedenheit erledigen konnten.
"Wer bist du?", fragte er und ließ die Höfelei direkt weg. Hätte Kirin es mitbekommen, hätte sie ihm vermutlich einen bösen Blick zugeworfen.

Er wusste nicht, was so schwierig daran war, seine Frage zu beantworten. Vielleicht war der Typ noch nicht aufgetaut oder wollte lieber direkt mit Nawt reden. Womit er kein Problem hatte. Er konnte ihn einfach ignorieren und in Ruhe lassen. Nawt würde er es vermutlich ohnehin nicht recht machen. Wenn er ihn nun anschwieg, würde er ihm sagen, dass er echt nicht gut für den Wohlfühlfaktor war. Wenn er eine Konversation mit dem Fremden anstrengte, würde Nawt ihm nur anhängen, andere vergraulen zu wollen. Das wäre nicht das erste Mal, und nicht immer meinte Nawt das scherzhaft.
Jedenfalls blieb es einen Tick zu lange still, was ihn eher misstrauisch machte, als ihn zu nerven. Fast so, als müsste der Typ sich erst noch irgendwas zurechtlegen. Und damit, dass er am Ende nicht einfach seinen Namen preisgab, machte er es auch nicht gerade viel besser. Arrow hob eine Augenbraue.
"Weiß nicht", erwiderte er und ließ den Blick noch einmal, diesmal ein wenig abschätziger über ihn wandern, als müsste er ihn sich für das, was er anschließend sagte, noch etwas genauer ansehen. "Ein Kevin vielleicht. Oder ein Jacob." Er zuckte die Schultern. Eigentlich hatte er nicht mehr herausfinden wollen als den Namen des Mannes, aber wenn dieser daraus gerne ein Rätsel um seine Existenz machen wollte, war das echt nicht sein Problem. Auch wenn er sich ziemlich sicher war, dass Gordon es nicht besonders gern sehen würde, dass jemand, der sich nach einem Job hier umhörte, einem Mitarbeiter so kam. Er legte Wert darauf, dass sie untereinander nicht stritten. Wenn sie zusammenarbeiten mussten, waren Konflikte keine gute Voraussetzung dafür. Nun ja, war ja nicht so, als hätte Arrow in seinen ersten Minuten hier den sozialen Schmetterling gespielt. Allerdings war er auch nicht zu einem Vorstellungsgespräch hier hereingeschneit oder hatte sich auf gut Glück hier reingewagt, um nach einem Job zu fragen.
"Mein Name ist Arrow", fügte er hinzu. Nicht unbedingt, weil er sich vorstellen wollte, sondern um seine Integrität zu wahren.

"Nur, wenn mir wer die Gelegenheit dafür gibt", erwiderte er, ohne mit der Wimper zu zucken. Blöde Frage, blöde Antwort. War ja nicht seine Schuld, dass der Kerl ihn danach fragte, was er denn so dachte, für wen man ihn halten könnte. Hatte er etwa mit einer freundlichen und ernstgemeinten Namensgebung gerechnet? Vielleicht hätte er noch besser Sissi oder Prinzessin Tausendschön sagen sollen, um seine Absicht klarzustellen. Nun ja, das hätte sicher etwas über die Stränge geschlagen.
Er verbiss sich einen Kommentar darüber, dass Xiao meinte, noch betonen zu müssen, dass genau das sein Name war, denn irgendwann reichte es schließlich auch, und er wollte sich wirklich nichts von Nawt anhören müssen. Er nickte einmal leicht und wandte sich zur Seite ab, um es sich lieber auf einem Stuhl neben Kirins Schreibtisch bequem zu machen. Er musste ja nicht nutzlos in der Gegend herumstehen, nur weil Xiao sich nicht aufs Sofa setzen wollte.
Seit heute Morgen. "Knapp zwei Jahre", antwortete er auf die Frage, ohne dabei weiter auf die Inneneinrichtung einzugehen, die er so besonders hübsch nun eigentlich auch wieder nicht fand. Es war aufgeräumt und ordentlich, duftete schwach nach den Blumen in den Fenstern, nach etwas Papier und dem Leder von Gordons Schreibtischsessel. Aber nun ja.
Er schob den Knöchel des linken Fußes über das rechte Knie und verschränkte die Arme locker vor der Brust. Das Katana hing an seiner linken Hüftseite und um den Hals, die Handgelenke und Unterarme trug er dunkle Bandagen, die an den Armen nur halb von der grauen Haori bedeckt wurden. Xiaos Versuch war sicher gut gemeint, aber Arrow fühlte sich nicht dazu genötigt, das Gespräch wirklich in Gang zu bringen oder dafür zu sorgen, dass es nicht sofort wieder erstarb. Glücklicherweise würde es wohl nicht allzu lange dauern, bis Nawt auftauchte.

Er war froh, dass Xiao sich mit der kurzen Antwort zufriedengab und offenbar nicht zu der Sorte Leute gehörte, die ein schweigendes Gegenüber zum Anlass nahmen, mit dem Plappern loszulegen und erst mal das gesamte Privatleben auszupacken und sorgfältig auszubreiten. Oder über Belanglosigkeiten wie das Wetter zu reden. Oder den neusten Klatsch und Tratsch. Es war nervtötend und für ihn außerdem immer ein Zeichen von Unsicherheit, Ungeduld oder einem Aufmerksamkeitsdefizit, wenn jemand nicht einfach mal für fünf Minuten nichts Irrelevantes erzählen konnte. Dass diese Meinung ein wenig zu drastisch war, hätte man ihm gern erklären können, es hätte die Aussage provoziert, dass er Besserwisser genauso wenig leiden konnte wie menschliche Wasserfälle. Allgemein war es aktuell sehr schwer, es ihm rechtzumachen. Sein Geduldsfaden war kurz und dünn, und gefragt zu werden, ob er seine Tage hatte, machte es nicht besser.
Xiao hatte sich in der Zwischenzeit nun doch dazu entschieden, sich unentspannt auf der einen Armlehne des Sofas niederzulassen. Fehlte nur noch, dass er nervös die schwitzigen Handflächen über seine Oberschenkel rieb wie vor einem bedeutenden Vorstellungsgespräch, auf das er sich wochenlang vorbereitet hatte. Nein, Spaß. Arrows Blick glitt zu ihm zurück, als er erneut die Stille brach, die vermutlich jede andere Person eher als unangenehm empfunden hätte.
"Ich bin nicht sicher. Ich glaube, seit zehn oder elf Jahren", sagte er, während die Tür aufging, durch die Kirin eben wieder verschwunden war, und ein mittelgroßer, schlanker Mann hereinkam.
Er stach auf seine eigene Art und Weise heraus, denn er trug ein blütenreines, leicht gerüschtes Hemd, eine dunkelbraune Hose und braune Lederstiefel, auf die er entweder sehr viel Zeit der Pflege verschwendete oder sie gerade nigelnagelneu gekauft hatte. Er trug ein blaues Tuch im Kragen, hatte einen gut gepflegten Drei-Tage-Bart und ordentlich zurückgekämmtes mittelbraunes Haar. Die Weite seines Hemdes war sorgfältig darauf abgestimmt, nicht zu locker zu sitzen, aber auch nur gerade so eng, dass an den Armen und im Brustbereich die Muskulatur betont wurde, aber unter dem Stoff nicht spannte. Die blauen Augen und das Lächeln erinnerten stark an seinen Cousin, aber ansonsten hatte Nawt mit Gordon nicht besonders viel gemeinsam. Er sah auf ordinäre und gewollte Art und Weise charmant und gut aus. Ein Schwiegersohn, wie er im Buch stand.
Nawt Winter schlug die Tür hinter sich zu. "In zwei Monaten feiern wir Firmengeburtstag", verkündete er und bewies damit, entweder das Gespräch belauscht oder Arrows Antwort richtig interpretiert zu haben. "Dann sind es genau zwölf Jahre, seit mein Cousin diesen Schuppen gegründet hat.
Mein Herr? Bitte, nehmt hier bei mir Platz. Was kann ich für Euch tun?" Er deutete auf einen Stuhl an Gordons Schreibtisch, hinter dem er nun stehen blieb, um Xiao dort in Empfan zu nehmen. "Arrow." Er wandte sich an Besagten. "Besäßest du die Güte, unserem Kunden etwas zu trinken zu holen?"
"Er wollte nichts", erwiderte Arrow, der genau wusste, dass Nawt das ebenfalls schon wusste. Seit der Sache mit der Sylphe war er unerträglich.
"Oh, aber ich bestehe darauf. Können wir Euch wirklich nichts anbieten? Kaffee, Tee, ein Glas Wasser? Wie wäre es mit einem kleinen Gebäckstück? Kirin ist wirklich eine ausgezeichnete Bäckerin."

Ja, Nawt sah aus wie der geborene Schwiegersohn oder so, als wäre er der Bank ein Geschoss drunter abspenstig geworden. Er war eitel, aber ein guter Geschäftsmann, hatte seine Augen zu oft auf die runden Körperregionen von Frauen gerichtet, aber man konnte einen großen Fehler machen, wenn man ihm allein nur diese Rolle andichtete. Die Muskulatur, die sich unter seinem Hemd befand, war nicht nur zur Schau, auch wenn Arrow ihm gerne gesagt hätte, dass es nicht ausreichend war, Fleisch zu essen und Gewichte zu heben. Am Ende hätte Nawt nur geglaubt, dass er neidisch war, und dem war nicht so.
Der Mann sah Xiao dabei zu, wie dieser sich von der Sofalehne herüberbequemte und sich auf den Stuhl setzte, den er ihm zugewiesen hatte. Arrow war in der Zwischenzeit wieder aufgestanden, denn er war sich noch nicht so sicher, ob er während des Gespräches weiter hier unten rumlungern wollte. Außerdem kannte er Nawts Angewohnheit, ihn herumzukommandieren, und er wusste, bis wohin er sich dem widersetzen konnte, und ab wann Nawt bei Gordon petzen ging.
"Mandelgebäck...", wiederholte Nawt nachdenklich und schmunzelte. Das war jedoch, bevor Xiao ihm eine Vorschrift darüber machte, dass er ihm das widerwillig Gewünschte besorgen sollte.
Arrow hob eine Augenbraue und blieb still.
Nawt erwiderte Xiaos Blick und schien einen Moment lang hin und her gerissen zu sein zwischen dem Verlangen, einfach zu tun, was er ihm sagte, und einem missbilligenden Rümpfen der Nase. Dann fing er sich und lachte humorlos auf. "Kirin hat mich darüber informiert, weshalb Ihr hier seid. Das ... ist ein interessanter Versuch, es hier reinzuschaffen. Also kein Wasser und kein Gebäck, verstehe." Er setzte sich.
"Keine Angst, ich geh schon", sagte Arrow und trat an den beiden und am Schreibtisch vorbei hinüber zu der Tür, durch die Nawt und Kirin gekommen und Kirin wieder verschwunden war. Er ließ sie diesmal offen stehen, auch wenn man vom Platz aus sowieso nicht hineinsehen konnte.
Nawt atmete seufzend aus und wies dann mit geschlossener Hand leicht auf Xiao. "Bitte. Ihr könntet die Zeit nutzen, um Euch vorzustellen und mir zu sagen, was Ihr Euch daraus versprecht, hier für ... eine gewisse Zeit lang? anzufangen." Er hatte offensichtlich seinen Faden wiedergefunden. Man musste ihm durchaus lassen, dass er professionell blieb.

Kirin, die in der hinteren Ecke des Pausenraumes saß, sah auf, als Arrow hereinkam, und hielt einen Moment lang beim Kauen ihres Salates inne. Sie hob fragend die Augenbrauen, da Arrow die Tür offenließ, doch er deutete nur ein leichtes Schulternzucken an und trat zur Küchenzeile. Er fischte ein Glas aus dem Schrank, füllte es mit Wasser aus einem Krug, und nahm einen Teller. Die Kekse, die Kirin gebacken hatte, waren nicht mit Mandeln. Sie hatte eine Hälfte Butterkekse gemacht, die andere hatte sie zu Kringeln geformt und in die Mitte einen Klecks Marmelade gefüllt.
Natürlich lauschte er Xiaos Vorstellung, und natürlich war unter anderem auch das der Grund, weshalb er die Tür nicht zugemacht hatte. Außerdem lohnte es sich für die paar Sekunden auch nicht. Arrow fand, dass Xiao ganz schön dick auftrug, und er hätte gerne Nawts Gesichtsausdruck gesehen, als er verkündete, dass er 150 Jahre alt war und seine Mutter scheinbar eine Waffe aus ihm gemacht hatte; Kirin aß hierbei etwas langsamer.
Nawt blinzelte derweil ein paar mal etwas schneller, unterbrach Xiao jedoch nicht, sondern machte sich doch tatsächlich ein paar Stichpunkte auf einem Blatt Papier vor ihm auf dem Tisch. Als er geendet hatte, stützte er die Hände ab und verschränkte sie.
Arrow nutzte den Moment, um aus dem Pausenraum zurückzukehren, wobei die Tür diesmal wie von Zauberhand hinter ihm zurück ins Schloss fiel, stellte etwas lieblos den Teller mit ein paar Keksen und das Glas Wasser vor Xiao auf dem Schreibtisch ab und fügte ein "Mandel gab's nicht" hinzu.
Es schien so, als käme Nawt nun zu dem Schluss, die Sache mit der übertriebenen Höflichkeit nun ebenfalls der Vergangenheit angedeihen zu lassen. "Wenn das alles stimmt, klingt es so, als hättest du bisher allein agiert. Unsere Leute arbeiten meistens in Teams. Gibt es einen bestimmten Grund, warum du dich lieber einer Gruppe anschließen willst, statt deine Dienste privat anzubieten? Und... Was soll das mit dem 'mal benehmen'? Das hier ist kein Pausenhof."
Man musste Nawt wirklich lassen, dass er die Sache ernstnahm und Xiaos Absichten hinterfragte. Vermutlich würde er ihn sowieso nicht ohne Gordons Segen einstellen. Arrow konnte sich allerdings auch gut vorstellen, dass er ihm diesen Vorschlag nicht einmal machen würde. Seine Fähigkeiten klangen vielversprechend, wenn sie denn alle der Wahrheit entsprachen, aber auch der Rest musste stimmen.

Wie großzügig, dass Xiao Arrows Worte mit einem "schon gut" abtat, als hätte er sich hier gerade dafür entschuldigt, dass er ihm seinen Essenswunsch nicht erfüllen konnte. Er blinzelte und kommentierte es nicht weiter, sondern wandte sich schon ab und trat zur Treppe zur Galerie hinauf. Bevor Nawt auf die Idee kam, ihm weitere Aufgaben zu geben oder so etwas. Er wollte mit der ganzen Angelegenheit eigentlich auch nichts weiter zu tun haben, und er hatte auch keine Lust, sich an einen neuen Kollegen zu gewöhnen. Es hatte lange genug gedauert, bis er mit den Mitarbeitern klarkam, befreundet war er mit keinem von ihnen und abgesehen von Kirin und Gordon wusste auch niemand anderes, wo er wohnte. Man sollte meinen, dass er das bei einer weiteren Person genauso gut hinbekommen würde, aber dann war da ja noch die Tatsache, dass er mit ihnen zusammenarbeiten musste.
"Ich weiß nicht, ob die Einarbeitungszeit es wert ist, wenn du sowieso nicht vorhast, lange dabeizusein", bemerkte Nawt, ohne aufzusehen, der noch etwas für Gordon auf den Zettel kritzelte. "'Vielleicht will ich einfach mal was anderes probieren', hmm..." Er wiegte den Kopf hin und her, ließ anschließend den Stift los und faltete die Hände wieder auf dem Tisch.
Diesen Satz fand auch Arrow ziemlich komisch, der sich gerade wieder aufs Fensterbrett hockte, jedoch statt nach draußen in den Innenraum hinunter und zu Gordons Schreibtisch blickte, an dem die anderen beiden saßen, Nawt mit dem Gesicht zu ihm, Xiao mit dem Rücken zu ihm. Seit der Sache auf Shushnar war er noch vorsichtiger als sonst, was Fremde anbelangte. Noch ein Grund, warum er es nicht gut fände, wenn er mit einem neuen Gesicht klarkommen musste, von dem er nicht wusste, ob es was mit dem ganzen Scheiß zu tun hatte. Pferdeschwanz und die Frau hatten beide gewusst, dass er ein Irada war - gut, das war nicht so schwer - und von Lasaliel mit dem Amulett gekommen war. Wenn der Schmierfink mit dem blonden Zöpfchen zu dem Schluss kam, dass er das Amulett vielleicht wirklich behalten hatte und zurückgekehrt war, wäre Anan der erste Ort, an dem sie nach ihm suchen würden.
Das war ja auch der Hauptgrund, warum er Nora nicht hier haben wollte. Hier war die Wahrscheinlichkeit, dass ihr etwas passierte, einfach am größten.
"Nawt Winter ist mein Name", stellte Nawt Winter klar und wirkte ein wenig genervt darüber, dass Xiao ihn "Herr Stellvertreter" nannte, statt einfach nach seinem Namen zu fragen. Er hätte sich auch dafür entschuldigen können, dass er sich eingangs nicht vorgestellt hatte, doch entweder kam ihm das nicht in den Sinn oder er fand nicht, dass das unhöflich gewesen war. Er beobachtete Xiao dabei, wie er sich einen Schluck vom Wasser genehmigte und anschließend dem Gebäck zuwandte.
"Ich weiß nicht", wiederholte er schließlich und trommelte mit den Fingerspitzen ein paarmal auf das Blatt vor sich auf dem Tisch. "Was genau stellst du dir denn vor, hier zu erledigen? Ich meine, du weißt, was wir machen, aber ... wie stellst du dir deinen Arbeitsalltag vor?"

Nawt schnalzte bei Xiaos Worten leicht mit der Zunge und Arrow war sich ziemlich sicher, dass er am liebsten die Augen verdreht hätte. Xiao schien die Balance nicht ganz zu finden, wann es am besten war, Forderungen zu stellen, und wann es sich eher weniger eignete. Jetzt wurde er quasi dazu aufgefordert und ließ den Gesprächsball einfach an sich abprallen und traurig zurückkullern, ohne seine Fantasie spielen zu lassen und zu erklären, wie er sich das Arbeiten hier vorstellte.
Nun ja, sie hatten es scheinbar beide versucht. Vielleicht waren Nawt und er auch einfach keine gute Kombination.
"Also schön", sagte Nawt, nachdem es ein paar Sekunden lang still geblieben war. "Ich werde nicht entscheiden, ob ich dich hier zur Probe einstellen werde oder nicht. Das soll Gordon tun. Ich hab echt keine Ahnung, ob er das will. Wir brauchen eigentlich nicht noch jemanden, aber es ist auch nicht verkehrt, noch wen in petto zu haben, falls mal Not am Mann ist. Na ja, gesetz dem Fall, dass du dafür überhaupt lange genug hier in der Stadt bist. Ich werde heute Abend mit ihm darüber sprechen. Gibt es irgendwas, das du besonders gut kannst, oder etwas, das du nicht gut kannst? Irgendwas, das ich ihm sagen soll?" Er runzelte fragend die Stirn und lehnte sich in dem Schreibtischsessel zurück, sodass er die Arme vor der Brust verschränken konnte.